1. Der Außenseiter

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In einer dieser Welten lebte ein Drache. Er war nicht der größte, um genau zu sein sogar der kleinste seiner Art. Vielleicht mit einem Tiger vergleichbar. Ein Winzling im Gegensatz zu den anderen.

Allein deswegen fühlte er sich anders. Seine Artgenossen waren immer weiter und weiter gewachsen, doch er behielt fast die Größe bei, in der er geboren wurde.

Damals war es dunkel. Doch da er ein Drache war, waren seine Sinne anders ausgeprägt als bei uns Menschen. Er konnte die Größe der anderen spüren, ohne sie zu sehen. Er wusste es einfach. Er wusste, wie viele sie waren und dass sie dafür verantwortlich waren, Welten zu erschaffen.

Und so war es geschehen: Jeder andere Drache bekam eine Aufgabe. Sein einziger Freund Venturus war für den Wind verantwortlich. Doch ihn schienen sie zu vergessen.

Es dauerte nicht lange und die anderen Drachen bemerkten, dass Fanyam nichts tat.
Und da wurden sie wütend. Denn jeder von ihnen hatte seinen festen Platz in dem Gefüge, eine Aufgabe, die er erfüllen musste. Nur Fanyam flatterte die ganze Zeit umher.
Ja, er flatterte, denn das, was er da tat, war weit entfernt von dem eleganten Gleiten der anderen. Wenn man nun einen bildlichen Vergleich anbringen will, trifft es der eines Adlers, der elegant durch die Lüfte gleitet, und eines Huhns, das lediglich ein wenig flattern kann, womöglich am besten. Wobei Fanyam schon weiter fliegen konnte als es ein Huhn vermochte.

Während die anderen brüllten, trötete er lediglich leise. Ein lautes Posaunen gegen eine lächerliche, kaum hörbare, Blockflöte.

Er war unfähig, irgendein Element an seinen Platz zu leiten, oder gar irgendetwas zu beherrschen. Das erkannten die anderen und sagten ihm dies.

„Du bist keiner von uns!", selbst sein ehemaliger Freund Venturus wandte sich gegen ihn, als es alle anderen auch taten. Und irgendwann glaubte er selbst an seine Unfähigkeit, irgendetwas in diesem Multiversum bewirken zu können.

„Du kannst noch nichtmal in ein anderes Universum fliegen! Und wirklich herrschen kannst du auch nicht. Denn du wirst dich nie gegen einen von uns durchsetzen können, wenn wir einer anderen Meinung sind!", spotteten die anderen.

Vermutlich deshalb war Fanyam einer der ersten, der sich auf einer Welt niederließ. Und dort blieb.
Die anderen vermissten ihn nicht und er nicht die anderen. Noch dazu war er nun von der Anstrengung des Flatterns befreit und er ruhte sich aus.

Er war der Erste, aber nicht der Einzige. Lediglich eine kurze Zeit war er allein, bevor ein paar der anderen kamen. Er spürte ihre Anwesenheit ohne sie zu sehen. Das brauchte er nicht. Es war wie eine Gewissheit. Sie waren hier. Sie würden diesen Planeten umformen.

Zu Beginn war es ein heißer Feuerball. Der glühende Grund, auf dem er stand, machte ihm nichts aus. Ganz im Gegenteil: Vielleicht war dieses Glühen das einzige, das ihn sich selbst spüren ließ.

Dann, irgendwann, begann es wie aus dem Nichts zu regnen. Und es hörte nicht mehr auf. Das Wasser stieg höher und höher, begann seine Füße nass zu umspülen. Bald darauf verschluckte das Wasser ihn fast vollständig. Für einen kurzen Moment überlegte Fanyam, ob er es nicht einfach geschehen lassen wollte.

Doch er reckte seinen Kopf so lange wie möglich aus dem Wasser. Und dann flatterte er auf den Hügel, der aus dem Wasser ragte. Er erreichte sein Ziel mit letzter Kraft.

Von diesem Zeitpunkt an veränderte sich die Gegend immer schneller. Es wurde grün auf der Welt. Und er war glücklich in seiner Höhle, die er nun allein bewohnte.

Er beobachtete die anderen von da an bei ihrem Werk.
Nur durch seine Beobachtung und Aufmerksamkeit erfuhr er, dass er auf der Erde lebte. Und hier gab es eine so große Vielfalt an Leben. Er sah ihnen zu, denn aufgrund seiner geringen Größe konnte er gut heimlich beobachten.

Dadurch erfuhr er einige Zeit später, dass die Götter, die sich wieder langsam erhoben, sogar eine eigene Spezies erschaffen hatten, deren Skelette so ähnlich aussahen wie ihre, damit niemand erfahren würde, dass es Drachen wirklich gab. Sie sollten es für Dinosaurierknochen halten.

Da Fanyam von dieser Welt und allen anderen fasziniert war, überlegte er kurz, ob er sich die anderen anschauen sollte.
Doch noch ehe er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste er, dass er die anderen Welten niemals würde erreichen können. Denn am Ende hatten die anderen recht: Er war kein richtiger Drache, gehörte nicht zu ihnen.
Er war zu klein für so eine Reise. Für die anderen Drachen mochte es ein einziger eleganter Flügelschlag sein, in ein anderes Universum zu kommen. Für ihn bedeutete es schon eine höllische Anstrengung vom Meer auf einen Berg zu fliegen. Noch weniger konnte er gegen die Schwerelosigkeit, die zwischen den Welten herrschte, ankommen. Denn sie umgab alles.
Die anderen, größeren Drachen, konnten die Schwerelosigkeit mühelos überwinden.
Und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit tiefer Traurigkeit.

Doch er war fasziniert von der Erde. Deswegen hielt er sich so gut es ging fern von den anderen Drachen.  Doch ganz ließ sich der Kontakt nicht vermeiden. Etwa, wenn er auf dem Weg zurück zu seiner Höhle war. Oder, wenn ein anderer Drache seine Höhle entdeckte.
In diesen Augenblicken bekam er immer Angst, dass sie ihn verscheuchen würden. Doch zum Glück tat das niemand. Vielleicht auch deswegen, weil die Höhle für die anderen zu klein war.

So verging einige Zeit und seine Sicht auf seine Situation veränderte sich.

Er hatte die Vorteile erkannt, die seine geringe Größe mit sich brachte. Denn dadurch konnte er die anderen Lebewesen beschatten, ohne gesehen zu werden.

Seine Artgenossen müssten da mehr aufpassen.

Und solange er das Fliegen nicht trainieren würde, komnte er auch nicht besser darin werden. Doch es kostete ihn zu viel seiner Kraft, deswegen ließ er es bald wieder bleiben.

Er versuchte, sich vorzustellen, wie es in den anderen Welten aussah. Waren sie so ähnlich wie die Erde? Oder waren sie alle nur Feuerbälle? Er würde die Antwort darauf nie sehen können, doch er mochte es, sich die anderen Welten in seinem Kopf auszumalen.

Also hatte er das getan, was er konnte. Denn entweder er ließ sich von dem Gedanken verschlingen, nichts zu können, oder er besann sich auf das, was er konnte.

Die Erde und ihre Bewohner unbemerkt beobachten.

Hier gab es große Ozeane, die zunächst von so kleinen Lebewesen bewohnt wurden, dass ein Mensch sie nicht gesehen hätte. Doch Fanyam konnte sie spüren, jedes einzelne Lebewesen, sei es auch noch so klein. Es war sein Drachenverstand, der ihn nicht durchdrehen ließ. Ein Mensch wäre bei den zahllosen Leben verrückt geworden.

Er spürte die Gezeiten, die an der Erde zerrten, konnte das Magnetfeld der Erde spüren. Und die kleinen Lebewesen, die langsam immer größer wurden. Die nach und nach nicht nur das Wasser beherrschten, sondern auch die Erde. Und schließlich die Luft. Es waren die Dinosaurier, die falsche Fährte für die Menschen, die eines Tages hier leben würden. Oder war es keine falsche Fährte, sondern ein versteckter Hinweis auf ihre Existenz? Doch noch war die Zeit der Menschen nicht gekommen. Und der Geschichte sei an dieser Stelle nicht vorgegriffen.

Nein, er war nicht allein auf dieser Welt. Und trotzdem war er einsam. Denn auch, wenn er seine Artgenossen immer spüren konnte, nahmen sie keinen Kontakt zu ihm auf.

Manchmal sah er sie sogar über die Erde ziehen. Doch sie beachteten ihn nicht. Deswegen beobachtete er die Welt, so wie jetzt.

Es gab Wälder mit Bäumen die der Länge eines Drachenhalses entsprachen. Ihre grünen, verletzlich wirkenden Kronen bildeten einen guten Kontrast zu den braunen, stabilen Stämmen. Diese Bäume waren einerseits fest mit dem Boden verankert, wie kaum etwas anderes. Und doch ragten sie hoch in den Himmel.
Es gab unendlich viele Farben, auch solche, die ein Mensch niemals sehen oder sich vorstellen könnte. 
Es gab eine Vielzahl an Gerüchen, die in seine Nase strömten. Es waren sowohl gute, als auch eklige, die er wahrnahm.
Und alles war so laut. Fanyam spürte die Geräusche der Drachen und die der anderen Tiere, die die Erde bevölkerten. Es herrschte zu jeder Zeit ein Grundrauschen, das er wahrnehmen konnte. Und doch fehlte etwas, das spürte er deutlich. Dennoch konnte er nicht greifen, was es war.

Er sah sich die Erde an und erkannte ihre Schönheit. Erinnerte sich daran, dass sie als glühender Klumpen begonnen hatte. Und nun war sie das hier.

Seine Gedanken wurden von dem Ruf seiner Artgenossen unterbrochen, der ihm durch Mark und Bein drang.

Es gab etwas Wichtiges zu besprechen. Er beschloss, sich zusammenzureißen und zu den anderen zu laufen.

Die Melodie der DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt