5. Versammlung

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„Ich habe euch zusammengerufen." Seine Stimme kam ihm viel zu leise vor, war er doch viel zu klein. Niemand schien ihn gehört zu haben. Doch davon würde er sich nicht unterkriegen lassen. Jetzt nicht mehr. Er war genauso ein Gott wie alle anderen.
Also setzte er erneut an. „Ich habe euch zusammengerufen. Weil ich etwas beobachtet habe."

Diesmal schien seine Stimme über den Platz zu fliegen und jeden noch so abgelegenen Winkel vor ihm zu erreichen. Die Drachen um ihn herum verstummten. Viel zu viele Augen starrten ihn an. Nein, sie funkelten regelrecht. Boshaft. Er konnte ihre Gedanken hören und wünschte sich sofort, es nicht zu können. Sie waren ihm nicht wohlgesonnen.
Wie soll so jemand kleines wie du auch nur irgendeine Rolle spielen?

Du bist keiner, der etwas erschafft! Du bringst Schande über uns, verschwinde endlich!

Fanyam unterdrückte den Impuls, zurückzutreten, sich klein zu machen und zu verschwinden. Er war lange genug unsichtbar gewesen. Das hier war sein Augenblick.
Um es mit heutigen Begrifflichkeiten auszudrücken: Es war seine Zeit, ins Rampenlicht zu treten. Aus dem Schatten der anderen hinaus.
Also starrte er zurück.

„Was soll das bringen, wenn du sie beobachtest? Du sollst etwas erschaffen!" Vespera, ein großer purpurner Drache, blickte ihn aus seinen großen, goldenen Augen an. Die Pupillen waren enge Schlitze. „Wenn du das nicht kannst, bist du nutzlos. Niemand von uns."
Die anderen schlossen sich seiner Überheblichkeit an, ausnahmslos. Selbst Venturus, sein alter Freund. Fanyam meinte allerdings, leise Zweifel in seinem Blick zu erkennen. Hatte sich Fanyams neue Einstellung zu ihm selbst auf seinen Freund übertragen?

„Wie soll man wissen, was man erschaffen muss, was der Welt fehlt, wenn man sie vorher nicht beobachtet?" Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er hatte nun seine Lücke gefunden. Niemand würde ihn aus dieser herausreißen können.

„Zeitverschwendung, nichts weiter. Warum sind wir hier? Um uns anzuhören, was du uns sagen willst? Du, der noch nichtmal fliegen kann?" Die anderen ließen nicht locker.

„Ich mag vielleicht nicht fliegen können", er ließ sich von den abschätzigen Blicken der anderen nicht beirren, „aber dafür sehe ich sie. Ich habe selbst lange gebraucht, bis ich das verstanden habe, aber..."

„Kein aber!" Es war Raventos, der fuhr dazwischen. Er schnaubte und Rauch stieg in die Höhe, der sich nach oben in die Luft kringelte, um sich dort irgendwann mit der Umgebung zu vermischen und scheinbar zu verschwinden. Doch nichts verschwindet so einfach.

Genauso wenig wie die Zweifel, die nun wieder, zwar langsam und ohne dass er sich diese eingestehen wollte, in Fanyam aufkeimten.

„Lass ihn ausreden." Venturus war der einzige, der nicht aufgebracht zu sein schien. Und doch funkelte er die anderen an.

Fanyam warf seinem ehemaligen Freund einen dankbaren Blick zu. „Dadurch, dass ich so klein bin, kann ich mich in derselben Dimension aufhalten wie die Menschen. Wie alle anderen. Und da ich durch meine Farbe gut getarnt bin, ist es noch schwieriger, mich zu entdecken. Deswegen sehe ich sie, so wie sie wirklich sind. Wenn ihr aus einer anderen Dimension in ihre Gedanken nachforscht, ist das nicht die Wahrheit. Denn die Menschen fühlen sich nicht frei. Ihr beeinflusst sie dabei. Jedes Mal, selbst dann, wenn ihr es nicht bemerkt oder absichtlich tut."
Woher er plötzlich all dieses Wissen hatte, konnte er nicht sagen. Es schien an seiner Göttlichkeit zu liegen.

Ja, es war wie ein Filter: Wenn die anderen Drachen etwas über die Menschen wissen wollten, schlichen sie sich in ihre Gedanken. Doch sie bekamen nie die ganze Wahrheit zu sehen, da sie sich beeinflussten.  

Vespera funkelte ihn weiter an. Alle sahen ihn weiter an. Und sie wurden immer ungeduldiger.

„Ich kann den Menschen helfen, ihre Leben schöner zu machen." Fanyam gab sich nicht so schnell geschlagen. „Denn ich sehe sie. Nicht nur ihre Gedanken, so wie ihr, sondern sie. Was sie wirklich denken. Denn ich weiß, dass sie sich nicht frei fühlen, wenn ihr in ihren Gedanken forscht." Das konnte er nur wissen, da er sich aufgrund seiner geringen Größe und seiner unscheinbaren Farben in derselben Dimension wie die Menschen aufhalten konnte. Und trotzdem nicht entdeckt werden konnte. Es hatte eben alles seine Vorteile, auch, wenn man sie manchmal auf den ersten Blick nicht wahrnimmt. Das bedeutet nicht, dass sie nicht da waren. 

„Lügner. Wenn wir nicht wüssten, was sie wollten, wie sollen wir dann neue Dinge erschaffen?" Igis, der Drache, der in die andere Welt geflogen war, war kurz davor sich abzuwenden.

„Ich höre, was sie sich wünschen. Wovon sie träumen."

„Was soll das sein?" Ein anderer Drache, der genervt klang.

„Ihr seid alle so groß, dass ihr die kleinen Dinge nicht beachtet. Ihr macht alle nur das, von dem ihr denkt, dass es das Richtige wäre. Was andere wollen, ist euch egal." Fanyam war sich der Anschuldigungen in seinen Worten bewusst. War er nun besser, als die anderen es die ganze Zeit über zu ihm gewesen waren? Doch er entschied für sich, dass er nun deutlich werden musste. Um sich Gehör zu verschaffen.

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Das Brüllen hunderter Drachen erfüllte die Luft. Es ließ die Erde beben und es schien nichts mehr zu geben, als diese Geräuschkulisse.

Doch Fanyam konzentrierte sich. Er sammelte seine Gedanken und begann seinerseits ein Geräusch von sich zu geben. Es war leise, doch es ging keinesfalls in dem Getöse um ihn herum unter.
Stattdessen sorgten seine Töne dafür, dass die seine Artgenossen nach und nach verstummten und ihn anblickten. Niemand von ihnen hatte so etwas jemals zuvor gehört. Es klang wie eine geplante Abfolge von Geräuschen, aber anders als etwas Gebrülltes oder Gesprochenes.

Dann wich die Verwirrung dem Erstaunen, als sie merkten, dass sie es schonmal gehört hatten. Doch sie hatten es schnell wieder vergessen. Denn was ein einzelnes kleines Wesen tat, konnte doch nicht wichtig sein.
Eine andere Art der Unruhe breitete sich aus. Keine Laute, sondern eine leise. Dies war fast unangenehmer.

Doch Venturus erinnerte sich an die Situation.  Es tut mir leid, wie ich dich behandelte. Dass ich nicht zu dir hielt als du mich bräuchtest.
Er wusste, dass die Gedanken seinen Freund erreichten. Fanyam schenkte ihm ein kurzes Augenzwinkern.

Der kleine Drache fuhr mit seiner Melodie fort, die nun alles um ihn herum ausfüllte.
Die Stimmung der Versammlung schlug um. Von Unruhe zu Zufriedenheit und Ruhe. Fanyam konnte es spüren, so wie es jeder Drache spüren konnte.

„Die Welt ist noch nicht vollständig. Das habe ich lange Zeit gespürt. Wir alle haben das. Und du bist nun der, der diese Lücke füllen kann." Venturus sah ihn an, Anerkennung lag in seinem Blick. 

Fanyam ließ die anderen Drachen, denen er gerade einmal bis zu den Knöcheln reichte, stehen.
Er flatterte zu den Menschen.








Die Melodie der DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt