Ein Schwall stickiger, warmer Luft schlug ihr entgegen, als sie zusammen mit Jina und deren Freundinnen durch den Hintereingang des Shadows in die dämmrige Umgebung trat. Die Band hatte dafür gesorgt, dass die vier Frauen sich nicht in die meterlange Schlange der Wartenden einreihen mussten, sondern stattdessen durch die schwere Türe des Backstage-Eingangs direkt in den VIP und Organisationsbereich des Clubs hatten schlüpfen können. Einerseits war Mika darüber mehr als erleichtert; waren ihr so doch, zumindest vorerst, die Begegnungen mit Dorian, Alexander und all den anderen erspart geblieben, auch wenn sie sich sicher war, das Xander längst Kenntnis über ihre Anwesenheit hatte, sowie der Mann doch immer über alles Bescheid zu wissen schien, ungeachtet ob es ihn etwas anging oder nicht.
Andererseits jedoch war der VIP Bereich nicht zuletzt auch Rückzugsort von Grischa und seinem engeren Kreis, sofern er denn an diesem Abend auch tatsächlich hier sein sollte. Die Hoffnung, nicht auf ihn zu treffen war ein Irrsinn, ein kläglicher Versuch sich selbst einzureden, dass es eine gute Idee gewesen war hierher zu kommen, doch je weiter Jina sie in das Innere des Clubs zog, weg von dem Ausgang, der sie wieder in die Sicherheit der Nacht entlassen konnte, desto präsenter wurde das mulmige Gefühl in Mikas Magengegend. Natürlich würde Grischa da sein, war nicht auch zuletzt eben dies der Grund dafür, dass sie zugestimmt hatte mit hierher zu kommen? Sie sehnte sich nach ihm, nach seiner Nähe, seinen Berührungen und doch war sie sich bewusst wie falsch es war hier zu sein. Das dieser Ort nicht länger ihr Zuhause war.Mika straffte die Schultern, bemühte sich ein letztes mal die frisch gefärbten, in dunklem Blau schimmernden Haarsträhnen zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zu knoten, doch wie immer blieb es bei dem vergeblichen Versuch und so atmete sie noch einmal tief ein, ehe Jina die Tür zum VIP Bereich aufschwingen ließ und sie in die spärlich beleuchtete Lounge traten.
Zu ihrer Erleichterung konnte sie weder Grischa noch einen der anderen Männer ausmachen - überhaupt war außer ihnen kaum jemand anwesend, lediglich zwei ältere Männer, von denen Mika annahm, dass sie die Techniker der Band sein mussten, knieten neben einem Verstärker auf dem Boden und auf einer der Couches schien eine junge Frau, ungeachtet der lauten Musik die selbst bis hier her durch die Wände dröhnte, zu dösen. Jinas Fingerspitzen strichen flüchtig über Mikas nackten Unterarm. "Keine Sorge, sie schläft nicht. Du kannst weiter atmen", gluckste ihre Begleiterin amüsiert. Mika setzte an etwas zu sagen, hielt inne, folgte wortlos den drei anderen Frauen und ließ sich auf jenem Sessel nieder, in welchem sie doch so viele Stunden auf Grischas Schoß verbracht hatte. Sie war froh, dass Jina ihre Atemlosigkeit scheinbar fehlgedeutet hatte - keineswegs war es der Anblick des Mädchens gewesen, welches sich inzwischen aufgerichtet hatte und von Jina augenblicklich in ein Gespräch verwickelt worden war. Nein, viel mehr war es der unverwechselbare Geruch Grischas gewesen, welcher ihr den Atem geraubt hatte. Er mochte nicht hier sein, nicht jetzt in diesem Moment, doch alles an diesem Ort trug nur allzu spürbar seine Handschrift. Das war sein Reich, sein Rückzug - seine Höhle der Löwen und dieses Gefühl hatte Mika auf einen Schlag sämtlichen Sauerstoff aus den Lungen geraubt.
Unruhig rutschte sie auf dem Sessel hin und her, ihre Finger nestelten an dem kühlen, alten Leder so wie sie es früher getan hatten, wenn sie auf Grischas Schoß unruhig den Gesprächen der Männer gelauscht hatte, bis irgendwann stets seine Hand den Weg zu ihrem Hals gefunden hatte und er sie mit leiser Stimme ermahnt hatte, ihn nicht zu reizen, nicht. Anfangs war ihr die Röte ins Gesicht gestiegen, wenn sie seine Härte unter sich gespürt hatte, doch mit der Zeit war diese absurd unschuldige Scham ihrem Selbstbewusstsein gewichen und obgleich sie sich ihrer Macht über seine Erregung nur allzu bewusst gewesen war - nie hatten diese Augenblicke mehr zur Folge gehabt als eine Hand um ihre Kehle und einige lauernde, warnend geraunte Worte.Doch da war kein Grischa, keine Hand und keine heisere Stimme, keine Lippen an ihrem Ohr; lediglich das leise Reden Jinas und der anderen Frauen sowie zweier Männer, die durch eine der Türen zu ihnen getreten waren, drang zu ihrem Geist hindurch, während Mika selbst sich mit einem Mal seltsam verloren fühlte.
"Ich fühle mich nicht so gut," murmelte sie, erhob sich, war gezwungen, sich an der Wand abzustützen um nicht ins Wanken zu geraten. Jina zog skeptisch die Augenbrauen zusammen, ignorierte den Kerl, der sich gerade um Kopf und Kragen brabbelte um ihre Aufmerksamkeit für sich zu behalten. "Soll ich mitkommen?" fragte sie besorgt nach, machte Anstalten aufzustehen, doch Mika winkte ab. "Geht schon," versicherte sie, drehte ihrer Freundin, deren skeptischer Blick auf ihr ruhte, den Rücken zu, tat einige vorsichtige Schritte in Richtung Tür, ehe sie es wagte die Hand vom rauen Putz der Wand zu lösen und den Raum eilig zu verlassen.
Wie von Geisterhand geleiteten ihre Schritte sie hinaus aus dem begrenzten VIP-Bereich, vorbei an einigen ihr fremden Sicherheitskräften und schließlich die freie Treppe hinab zum Herzstück des Clubs. Laute Musik schlug ihr entgegen, ein Schwall aus Alkoholdunst, Stimmenwirrwarr und sich bewegenden Körpern nahm in sich auf, als der letzte Sicherheitsmann ihr mit skeptischem Blick den Weg zu Tanzfläche freigab. Sein lauernder Blick ruhte schwer auf ihrem Nacken.
"Kenne ich dich nicht?" Der Atem des Securitys prallte dicht hinter hinter ihr auf ihren Nacken, jagte ihr einen kalten Schauer über die Haut. Sie straffte die Schultern, wirbelte herum, suchte seinen Blick. Er war ihr einige Schritte gefolgt, die tanzenden Körper der Gäste schirmten sie von den Blicken der anderen Mitarbeiter und die sich bewegende Menge nahm Mika jede Möglichkeit, Raum zwischen sie und den Fremden zu bringen. "Nein, ich denke nicht", entgegnete sie kurz angebunden, kehrte ihm wieder den Rücken zu und schob sich weiter durch die schwitzigen, bebenden Körper. "Wie schade", folgte ihr die Stimme ihres Gesprächspartners, der ihr ein seltsames, undefinierbares Lächeln schenkte, als Mika einen letzten Blick über die Schulter zurück warf.
"Ich war mir sicher, dir schon einmal begegnet zu sein..."
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Vergissmeinnicht
Romantizm"Du kannst nicht ohne ihn leben - und er kann nicht ohne dich sterben." "Vergissmeinicht" ist der zweite Teil der Reihe, die Grischas und Mikas Geschichte erzählt. Es empfiehlt sich, den ersten Teil "Bittersüß" bereits gelesen zu haben, andernfalls...