Prolog

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Ein feiner, süßer Geruch lag in der Luft. Der Wind, der in unbeständigen Brisen mit den Haaren der anwesenden Menschen spielte, trug den Duft weiter, bis er den gesamten steinernen Pavillon erfüllte. Im Hintergrund sang der Chor mit leisen mystischen Stimmen und erzeugte eine Spannung, bei der sich der Herzschlag beschleunigte. Im Halbkreis hatten sich alle Gäste der Geburtszeremonie um einen Sockel mit einem steinernen Becken angeordnet, die Hände locker gefaltet. In ihren Augen glänzte die Erwartung auf etwas Großes, Einzigartiges. Währenddessen schaute der Mann, der hinter dem Becken stand, völlig ruhig dem Paar entgegen, dessen Neugeborenes er heute mit seiner Gabe in Verbindung bringen sollte.

Der Mann, der mit auffallend grünen Augen gesegnet worden war, und seine blonde Frau schritten die wenigen Stufen zu dem leicht erhöht liegenden Pavillon hinauf. In ihren Armen hielt die Blonde ein Bündel. Die Anwesenden lächelten verzückt bei dem leisen Glucksen, das man von dem Neugeborenen vernehmen konnte.

Mit einer Ausnahme. Die Gestalt, die weder von dem Paar noch von den Gästen wahrgenommen worden war, verzog keine Miene. Ihre kalten Augen lagen fest auf dem Säugling, ein harter Zug schlich sich um den Mund, während der Rest des Gesichts von dem Schatten einer Kapuze verzerrt wurde. Die Gestalt, kaum mehr erkennbar als ein dunkler Fleck im Schutz der Bäume, brannte vor Verlangen. Sie wollte dieses Bündel, diese winzige junge Seele vernichten, ihr Licht zu einem Sklaven machen. Doch sie zügelte sich, holte unhörbar Luft und entspannte sich wieder. Der Zeitpunkt würde kommen, das wusste die Gestalt, doch noch war es nicht so weit.

Die Stimmen des Chors schwollen an, erschufen eine fesselnde Melodie, die über die grasbedeckte Ebene schallte. Das Neugeborene begann zu weinen, und die Mutter presste es ein wenig fester an sich, während sie sich zu ihrem Kind hinunterbeugte, um es mit leisen Worten zu trösten.

Der Vater fasste seine Frau sanft am Ellenbogen und führte sie mit sich, auf den weiteren Mann zu, der milde lächelnd das Paar mit ihrem Kind betrachtete. Die Frau hob den Blick, erwiderte das Lächeln des Gesegneten, der in ein helles Gewand gekleidet war, und legte ihm dann den Säugling vorsichtig in die Arme.

Grüne Augen blickten in Graue. Jung in alt. Der Gesegnete sah die Macht in diesen unendlichen grünen Tiefen, die Gabe, die in diesem kleinen Menschen ruhte. Er konnte die Vorahnung spüren wie den Wind, der sein Gewand ein wenig zum Flattern brachte. So viele junge Seelen hatte er nun schon mit ihrer Gabe verbunden, doch niemals hatte er dabei dieses Gefühl gehabt.

Er löste den Blick von dem Gesicht des Säuglings und trat näher an das Steinbecken heran. Der süße Duft, der sich mittlerweile wie ein schützender Mantel über alles und jeden legte, quoll in feinen, violetten Schwaden daraus empor. Sie rührten von der schönen Blüte, die umgeben von Stein in dem Becken vor sich hin schwelte. Der Gesegnete atmete den Qualm tief ein, ließ sich von ihm in den Geist führen, der diese Welt umgab. Langsam ließ er das Neugeborene tiefer in das Steinbecken sinken, bis es ganz und gar eingehüllt wurde. Es blinzelte, die Tränen versiegten und das Weinen verstummte, während es dem Gesegneten in eine andere Welt folgte.

An diesem Tag wurde ein Kind mit einer Gabe betraut, die die Welt verändern sollte. Und es blieb nicht das Einzige. Vier weitere junge Seelen wurden in diesem Jahr geboren, jedes einzelne mit einer Aufgabe, die die Menschen befreien sollte.

Die verhüllte Gestalt wohnte jeder Zeremonie bei, verfolgte die Gaben- und Schicksalfindung der Seelen, die ihren Untergang bedeuten sollten.

Sie ahnte nicht, dass sie mit dem Plan, der in ihren düsteren Gedanken heranreifte, ihre eigene Seele unwiderruflich vernichten sollte.

Seelenwahrheit - Runde 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt