Kapitel 5: Die Entscheidung (IV)

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Um mich herum musste rasender Applaus zu hören sein, denn die Menschen klatschten und jubelten und Mena schüttelte mich vor Aufregung. Doch von alldem bekam ich kaum etwas mit. Ich war wie in Trance. Vor meinen Augen verschwamm alles in meiner Umgebung zu einer grauen Masse und mein Herz pumpte so laut, dass ich nichts anderes mehr hören konnte.

Wie aus weiter Ferne nahm ich wahr, dass ich aufstand und mit steifen Schritten nach vorne ging, als ob mein Körper mir fremd wäre. Ranajea lächelte mich strahlend an und ihre weißen Zähne blendeten mich so sehr, dass ich mich am liebsten abgewendet hätte. Doch ich zwang mich zu einem Lächeln und neigte leicht meinen Kopf. Ranajea ergriff meine Hand und drückte sie beinahe liebevoll. Ich hatte mir schon oft ausgemalt, wie es wohl sein würde, ihr die Hand zu schütteln, aber es war anders, als ich es erwartete. Die Haut ihrer Handflächen war so zart wie die eines neugeborenen Kindes doch die Kraft, die in diesen weichen, feinen Fingern lag, hätte mir sicherlich ohne Mühe die Knochen brechen können.

Beinahe schmunzelte ich belustigt darüber, wie viel der Händedruck einer Person über denjenigen aussagen konnte. Ranajea mochte einer der schönsten und zartesten Menschen sein, die man im Land finden konnte, doch ihre Kraft war beinahe unübertroffen. Etwas, dass man nicht vergessen durfte, es aber allzu leicht tat.

Nachdem ich auch Gervo begrüßt hatte, stellte ich mich neben die drei anderen Kandidaten von Belvêos Seelenakademie und starrte zu dem Publikum hinab. In den Reihen erkannte ich meinen Vater und Mena und sie lächelten und winkten, und wenn mich nicht alles täuschte, hatten sie sogar Tränen in den Augen.

Nur widerwillig schien sich die merkwürdige Taubheit von mir lösen zu wollen, doch nach einigen Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen, war der Bann gebrochen und Ranajeas Stimme drang so deutlich wie zuvor an mein Ohr.

„Und somit ist der aufregendste Teil dieses Events vorbei und wir können uns ein kleines Bisschen entspannen." Ranajea lachte perlend und die Menge lachte mit.

Giarina tippte mich von der Seite an und ich beugte mich näher zu ihr, um sie besser zu verstehen. „Ist das nicht unglaublich? Wir wurden erwählt! Wir dürfen auf diese Reise gehen! Ich kann es kaum erwarten, das Seelenland zu sehen."

Ich nickte zustimmend. „Aber bei dir war es doch sowieso schon klar, dass du erwählt wirst", flüsterte ich zurück und winkte meinem Vater und Mena, die sich erhoben hatten und bereits nach draußen gingen, gefolgt von dem Rest der Anwesenden. Giarina wandte sich erstaunt zu mir um, ihre Augen glänzten immer noch ein wenig vor Aufregung.

„Warum das denn?", fragte sie erstaunt und runzelte ihre Stirn. Beinahe hätte ich geseufzt. So lieb und klug Gia eigentlich war, sich selbst unterschätzte sie meistens maßlos. Das ließ sie manchmal ein wenig einfältig wirken– eine Eigenschaft, mit der ich nur schwer umgehen konnte.

Zum Glück musste ich ihr darauf keine Antwort geben, denn Gervo winkte uns drei Auserwählten zu sich heran. Folgsam stellten wir uns zu ihm und lauschten auf seine Worte.

„Bevor wir euch jetzt entlassen, damit ihr euren Erfolg feiern könnt, müssen wir noch ein paar wenige Dinge bereden, damit die nächsten Tage und Wochen euch nicht unvorbereitet treffen." Er nahm von Krea einige weiße, nach Blüten duftende Blätter Papier entgegen, die anscheinend wichtige Informationen enthielten. Gervo verteilte diese an uns und sprach dann weiter.

„In fünf Tagen findet das Eröffnungsfest statt, dass ihr ja schon aus den vergangenen Jahren kennt. Näheres dazu findet ihr auf diesen Informationsblättern, ihr werdet morgen aber auch nochmal einen Brief erhalten bezüglich der Vorbereitungen. Danach fängt für euch das Training an."

Gervo sah uns nacheinander ernst in die Augen, um seinen folgenden Worten Nachdruck zu verleihen. Obwohl er nicht sehr viel älter war, als wir, wirkte er reifer, erwachsener. Als hätte er bereits Dinge erlebt, von denen wir nur träumen konnten.

Oder Dinge, die sehr bald auf uns zukommen, fügte ich nüchtern in Gedanken hinzu.

Nachdem Belvêos Auserwählter auch noch erklärt hatte, dass wir weitere Informationen zu dem speziellen Training in einem Schreiben bekommen würden, verbeugten wir uns noch einmal vor ihm und der Herrscherin. Beide traten von der leicht erhöhten Bühne herunter und wir blieben alleine mit Krea zurück.

Ich musterte sie ungeniert. Obwohl dieser Tag heute für sie ein Grund zur Freude war, blieb ihr Gesicht unverändert streng und unnahbar. Mehr denn je wirkte sie wie eine leblose Kreatur aus Stein, die nur existierte, um die Aufgabe zu erfüllen, die ihr zugetragen worden war. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass sie überhaupt ein Leben außerhalb der Steinmauern der Schule hatte.

„Nun", sagte Krea und ihr Mund verzog sich zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln. Nicht einmal zu einer ordentlichen Gefühlsregung war sie imstande. „Ihr habt es also geschafft. Ich gratuliere euch zu eurem Erfolg. Die nächsten Wochen werden zweifelsohne sehr anstrengend werden, aber durch den guten Unterricht, den ihr bisher erhalten habt, werdet ihr diese Herausforderung sicherlich meistern."

Wir nickten synchron, erwiderten jedoch nichts. Es gab dem Gesagten einfach nichts hinzuzufügen, denn unsere Lehrerin hatte recht. Auch wenn man es ihr nicht ansah, so hatte Krea im praktischen Teil des Unterrichts immer wieder ihr Können bewiesen, sehr zur Überraschung ihrer Schüler. Egal ob es um Selbstverteidigungskniffe ging oder wie man am Besten Kondition aufbauen konnte, sie hatte nie gezögert, es ihren Schülern eigenhändig vorzuführen- egal wie lächerlich sie dabei aussah.

Krea verabschiedete sich mit einem kurzen Kopfnicken von uns und verschwand im Schulgebäude, während Mantino, Gia und ich alleine zurückblieben. Scheinbar wohnte sie tatsächlich hinter den kühlen Mauern der Schule.

„Hättet ihr damit gerechnet?", durchbrach Mantinos Stimme die unangenehm werdende Stille und setzte sich langsam in Bewegung. Gia und ich folgten ihm, während ich mit dem Kopf schüttelte.

„Niemals", sagte ich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, damit niemand meine unruhig zitternden Hände sehen konnte.

„Es kommt mir so unwirklich vor", gestand Gia und befühlte ihre vor Aufregung immer noch knallroten Wangen.

„Wie im Traum", fügte ich hinzu und Mantino nickte nur zustimmend. Ich hatte nie besonders viel Kontakt zu ihm gehabt, aber das konnte ich von niemandem behaupten, mit dem ich Unterricht hatte. Mena bildete da die einzige große Ausnahme.

Wir traten hinaus ins Freie und die Sonne begrüßte mich mit ihrer Wärme, die sachte über mein Gesicht streichelte, als würde sie einen alten Freund begrüßen. Kurz blieb ich stehen und ließ diese Liebkosung auf mich wirken. Mein Herzschlag, der die letzten Stunden in unermessliche Höhen geschossen war, begann, sich zu normalisieren und auch das Zittern meiner Hände ließ langsam nach. Unerschütterliche Ruhe hatte von mir Besitz ergriffen.

Jetzt würde alles gut werden, nichts stand mir mehr im Wege. Nach all den Jahren würde ich sie endlich wiedersehen.

Seelenwahrheit - Runde 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt