Kapitel 6: Das richtige Kleid (I)

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Die Tage nach der Ernennung der Auserwählten im kleinen Kreis, vergingen wie im Flug und das war mir gerade recht. Noch nie hatten wir innerhalb so kurzer Zeit so viel Besuch von so vielen unterschiedlichen Leuten.

Ihre Beweggründe waren verschieden: mal wollten sie mir ernsthaft gratulieren, da sie ahnen konnten, was die Erwählung mir bedeutete; mal wollten sie „alte Freundschaften" auffrischen, von der sie sich in später Zukunft gewisse Vorteile erhofften; und mal wollten sie schlichtweg damit angeben, eine der Auserwählten bereits gesehen zu haben.

Was es auch war, es wäre mir lieber gewesen, wenn alle diese Leute sich von mir ferngehalten hätten. Zu viel Trubel und Aufmerksamkeit machten mich regelrecht krank, und auch wenn ich wusste, dass das in den nächsten Wochen keineswegs besser werden würde, so wollte ich mich trotzdem nicht daran gewöhnen.

Deshalb verzog ich mich die meiste Zeit und leistete Demurì Gesellschaft, der jeden Tag ein kleines Stückchen mehr zu wachsen schien.

Den Bau seines vorläufigen Geheges hatte ich abgeschlossen und der Kleine schien sich sichtlich wohlzufühlen. Den ganzen Tag wühlte er mit der feinen Nase in der weichen Erde, knabberte an jungen Grasspitzen und biss den duftenden Blumen die Köpfe ab, wobei er dann so übermütig wurde, dass er wild umhersprang und durch die Gegend rannte.

Es war regelrechter Balsam für meine Seele, ihm dabei zuzuschauen. Wenn ich mich dann in das Gehege setzte, kam Demurì bald auf mich zu und döste ein wenig, während ich sanft sein Köpfchen streichelte. Danach spielten wir oft miteinander und das fröhliche Quietschen dieses kleinen Wesens zauberte mir nicht selten ein Lächeln ins Gesicht.

Ich wusste, dass er nicht ewig bei mir bleiben würde und ich wusste, dass ich ihn nicht zu sehr an den Menschen gewöhnen durfte, denn anders, als mein Vater oder meine Freunde dachten, wollte ich ihn nicht behalten. Er war ein Tier, das nicht dazu geschaffen war, sein ganzes Leben lang alleine in einem Gehege zu leben, mit einem Menschen als einzige Gesellschaft.

Wenn Demurì irgendwann alt genug sein würde, dann wäre die Zeit gekommen, ihn in die Wildnis zu entlassen, wo er sich eine eigene Herde aufbauen könnte.

Ich lächelte wehmütig, als ich daran dachte und strich sanft über die großen Ohren des schlafenden Geschöpfs. Leise stand ich auf und verließ das Gehege. Es kam meinem Plan zugute, dass ich Demurì bald nur noch selten und zum Schluss dann für eine unbestimmte Zeit gar nicht mehr sehen würde. So würden wir uns nicht zu sehr aneinander gewöhnen und der Abschied würde uns beiden nicht so schwerfallen.

Mit langsamen, beinahe zögerlichen Schritten ging ich zurück ins Haus. Die Sonne war fast untergegangen und tauchte alles in ein merkwürdiges Zwielicht. Als ich durch die Tür trat, war es im Flur schon dunkel. Ich schauderte und musste mich dazu überwinden, in normaler Geschwindigkeit zur Küche zu gehen, in der mein Vater saß und einen Ring säuberte. Er war so konzentriert, dass er mich erst bemerkte, als ich den Stuhl zurückschob.

„Bei den Seelen!", stieß er erschrocken aus und zuckte so sehr zusammen, dass er den Ring von sich schleuderte, der daraufhin durch alle Ecken unserer kleinen Küche sprang.

Ich sprang wieder auf und wir sahen uns beide erschrocken an- bis mein Vater anfing zu lachen und ich mit einfiel.

„Du hast mich aber erschreckt", meinte er und bückte sich, um den Ring aufzuheben. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete er ihn, bevor er möglichen Schmutz wegpustete und sich wieder an den Tisch setzte. Ich tat es ihm gleich und eine Weile schwiegen wir gemeinsam.

„Wie geht es Demurì?", fragte mein Vater und legte den Ring beiseite.

„Gut." Meine kurzangebundene Antwort wurde durch mein Lächeln abgemildert.

Seelenwahrheit - Runde 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt