Kapitel 2: Die Entscheidung (I)

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Die Sonne schien warm auf mein Gesicht und ließ mich die Welt hinter meinen geschlossenen Lidern rotsehen. Sanfter Wind spielte mit meinem offenen Haar. Die Pausen verbrachte ich gerne auf dem riesigen Maranienbaum, dessen tiefdunkle Rinde rau an meinen Handflächen kratze. Die Festigkeit des alten Holzes ließ mich eine Sicherheit verspüren, die ich selten meinen Begleiter nennen durfte. Wie aus weiter Entfernung hörte ich die Stimmen und das Lachen meiner Mitschüler, dabei befand ich mich gerade mal zwei oder drei Meter über dem Boden.

Hier, auf der Seelenakademie von Belvêo war es mir gestattet, aus der Reihe zu tanzen. Ich durfte mich merkwürdig benehmen, denn ich gehörte zur Elite. Ich war die Zukunft des Landes. Wenn man eine hochangesehene Position belegte, wurde es einem leichter verziehen, wenn man sonderbar war. Eigentlich störte es mich, dass man zwischen den Menschen einen so riesigen Unterschied machte, denn im Grunde waren wir alle gleich, doch in dieser Hinsicht kam es mir gelegen.

Eine schmale Hand legte sich um meinen Knöchel, der entspannt durch die Luft baumelte und ich riss erschrocken die Augen auf. Die Sonne blendete mich mit all ihrer Kraft und ich wäre beinahe vom Baum gefallen, hätte ich nicht die Geistesgegenwärtigkeit besessen, mich an einem Ast festzuklammern. Es war durchaus schon vorgekommen, dass ich aus nicht unbeträchtlicher Höhe gefallen war, aber die Zeit und vermutlich auch die Schmerzen, die aus meinen Stürzen resultierten, hatten mich gelehrt, vorsichtiger, aber auch geschickter zu werden. Deswegen funkelte ich Mena nur böse an, als diese sich etwas schwerfällig daran begab, sich auf einen Ast zu hieven.

„Hattest du vor, mich in meinen Untergang zu stürzen?", zischelte ich und setzte mich gerade hin. Mena grinste und strich sich ihre zerzausten Haare aus dem Gesicht.

„Niemals", entgegnete sie und blinzelte liebenswürdig mit den Augen. Ich schnaufte sehr unelegant durch die Nase und lehnte mich wieder zurück, die Lider gegen das Sonnenlicht geschlossen.

„Vor wem bist du dieses Mal geflohen?", wollte meine beste Freundin wissen und ich konnte ihren fragenden, zuweilen auch etwas stechenden Blick auf meinem Gesicht spüren.

„Vor dir", murmelte ich, und dieses Mal war es an Mena, ein Schnauben herauszulassen.

Ich seufzte. „Ich kann sie gerade einfach nicht ertragen."

Mena schwieg, doch ich wusste, dass sie mich verstanden hatte. Und ich wusste auch, dass sie es nicht guthieß, dass ich wieder einfach davor geflüchtet war. Gedanklich zählte ich bis fünf, als Mena auch schon anfing.

„Du weißt ja, was ich davon halte. Du musst doch nicht bei ihnen stehen und mit ihnen Witze machen, aber du könntest zumindest versuchen, dich nicht ständig zu verstecken wie ein ängstliches Venér."

Ohne die Augen zu öffnen, zog ich meine Augenbrauen hoch. Mittlerweile müsste sie wissen, dass ihre Bemühungen in der Hinsicht vergeblich waren, auch wenn es mich amüsierte, dass sie es trotzdem jedes Mal versuchte. Bei jeder anderen Person wäre ich vielleicht wütend deswegen geworden, aber nicht bei ihr. Trotz allem respektierte sie nämlich meine Grenzen und wusste, wann man diese besser nicht überschreiten sollte. Deswegen schätzte ich sie so sehr.

Das Gongen der bronzefarbenen Metallschale durchdrang mein Bewusstsein und ich seufzte tief. Vorbei war meine kurze Zeit des ruhigen Friedens in der tröstlichen Umarmung des Maranienbaums.

„Komm schon", sagte Mena und machte sich daran, zu Boden zu klettern.

Ich seufzte ein weiteres Mal, streckte mich und sprang ohne nachzudenken auf einen unter mir liegenden Ast, von dem ich mich schließlich herabhängen ließ und den restlichen Meter zwischen meinen Füßen und dem Boden überbrückte, indem ich einfach losließ. So kam ich noch vor meiner Freundin unten an und strich meine Kleidung glatt, während Mena etwas umständlich ebenfalls ihre Füße auf dem Boden absetzte.

Seelenwahrheit - Runde 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt