Endlich wandte Gervo wieder seinen Blick ab und beendete seine kurze Rede mit einem Lächeln und einer Verbeugung. Die Menschen, die mit mir im Publikum saßen, klatschten und wieder ertönten einige Pfiffe, doch all das nahm ich kaum wahr. Es war, als würde mir erst jetzt bewusst werden, dass heute der Tag der Entscheidung war, die Entscheidung über mein Leben und das aller anderen Schüler der Seelenakademie.
Meine Lippen teilten sich und ich rang nach Luft, unfähig unter diesem Druck richtig zu atmen. Unaufhörlich kreiste diese winzige Stimme in meinem Kopf. Wenn du nicht auserwählt wirst, hast du versagt. Du wirst niemals wieder diese Gelegenheit bekommen. Sie grub sich mit ihren scharfen kleinen Klauen in meinen Verstand, und obwohl dieser mir sagte, dass ich unter gar keinen Umständen auf sie hören sollte, nährten diese Worte meine Unsicherheit wie ein Stück trockenes Holz eine hungrige Flamme.
Meine Brust hob und senkte sich hektisch im unsteten Rhythmus meines Herzschlags und ich klammerte mich am Sitz meines Stuhles fest. Ich redete mir ein, dass alles gut werden würde und schluckte immer und immer wieder, um das staubtrockene Gefühl in meiner Kehle loszuwerden. Ich nahm wahr, dass Krea wieder die Bühne betrat und einen weiteren Gast ankündigte. Schon bevor sie ihren Namen sagte, wusste ich, wer es sein würde. Ranajea wohnte den Ernennungen immer bei, denn sie war diejenige, die die Seelensuche überhaupt erst ermöglichte und sie war auch die Person, die das letzte Wort bei den Entscheidungen über die Kandidaten hatte.
Als sie auf die kleine Holzbühne trat, wurde ich schlagartig ruhiger. Mein Puls beruhigte sich und das beklemmende Gefühl verschwand. Ich konnte wieder frei atmen und mein Blick fokussierte sich ganz auf die wunderschöne Frau, die nun alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Volles, goldblondes Haar fiel der Herrscherin in beeindruckenden Wellen über den Rücken bis auf die Hüfte. Ein eng anliegendes Kleid betonte ihren Körper und das Funkeln winziger Kristalle brach das Licht der Kerzen so oft, dass man von ihrem Anblick buchstäblich geblendet wurde.
Alle im Raum standen auf und neigten leicht den Kopf vor ihr, eine Geste, die den Respekt vor der Herrscherin deutlich machen sollte. Auch Ranajea neigte ihren Kopf, selbst dann noch, als alle anderen sich wieder auf ihre Plätze gesetzt hatten.
„Liebe Schüler und Schülerinnen der Seelenakademie von Belvêo und natürlich auch liebe Verwandte", Ranajea breitete ihre Arme aus und lächelte in all ihrer sanften und doch gebieterischen Anmut, „herzlich willkommen!"
Wieder ertönte Applaus. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr lassen. Sie hatte etwas an sich, das in mir eine tiefe Vertrautheit weckte, die wiederum eine Sicherheit hervorrief, die mich normalerweise nur erfasste, wenn ich umgeben war von dem ruhigen Atem des Waldes. Ich hatte sie erst einmal gesehen, als Kalorius Gasthaus sein 20. Jubiläum gefeiert hatte. Sie war persönlich dort gewesen und hatte Kalorius und Namagara gratuliert, denn es sei das erfolgreichste und schönste Gasthaus, das Belvêo zu bieten hätte. Das war vor fünf Jahren gewesen, zu einer Zeit, als noch alles in Ordnung gewesen war. Doch auch damals hatte ich diese Vertrautheit gespürt, wie ein warmes Gefühl, das mich in eine sanfte Umarmung schloss.
„Ich freue mich auf die diesjährige Seelensuche, denn auch dieses Jahr haben wir sehr viele talentierte Bewerber und Bewerberinnen gehabt, die es alle verdient hätten, an dieser außergewöhnlichen Reise teilzunehmen." Erwartungsvolle Stille legte sich über den Raum und ich atmete tief ein und aus. Schon bald würde es so weit sein.
„Doch leider können wir nicht jedem Zugang zu dem magischen Reich der Seelen gewähren. Dort herrscht eine empfindliche Ordnung, die unter keinen Umständen gestört werden darf. Einzig und alleine unseren Auserwählten wird dieses Privileg vorbehalten sein. Und ich habe die Ehre, diese drei Auserwählten aus Belvêo zu verkünden."
Die Anspannung stieg ins Unermessliche. Die nächsten Sekunden entschieden, ob mein Leben fiel oder weiterging. Ich presste meinen Kiefer so feste zusammen, dass meine Zähne knirschten. Mein Blick fixierte unablässig die Regentin unseres Landes, deren Auftreten so schön, so selbstbewusst und so mächtig war, dass es schmerzte. Unablässig funkelte das Kleid, das wertvoller war, als das Haus in dem ich lebte und ohne Unterlass glänzte die seidige goldene Pracht der Haare.
Ranajea lächelte breit und legte soviel Dramatik in ihre Worte, dass ich beinahe schon die aufgeregten Schwingungen der Gemüter um mich herum wahrnehmen konnte.
„Die erste Auserwählte von Belvêo ist Giarina, die, die Gefühle sehen kann!"
Applaus brandete auf und Jubelrufe und Schreie ertönten, und meine Stimme war darunter, auch wenn ich den Kloß in meinem Hals nicht ignorieren konnte. Ich hatte gewusst, dass sie eine Erwählte sein würde und es traf mich nicht überraschend. Trotzdem wurde die Wahrscheinlichkeit verringert, dass mein Name aufgerufen wurde, selbst wenn die Entscheidungen schon längst getroffen worden waren.
Giarina stand auf, das Gesicht nur so vor Freude strahlend. Zwei Tränenspuren rannen über ihre geröteten Wangen und ihre hellen Augen leuchteten strahlender als die Sterne am Nachthimmel. Sie würde eine perfekte Figur an Gervos Stelle abgeben. Übelkeit machte sich in mir breit, doch ich schluckte meinen Neid hinunter. Sie hatte es verdient und ich würde es ihr nicht missgönnen.
Meine Mitschülerin schlängelte sich zwischen den Stuhlreihen durch und suchte sich ihren Weg nach vorne zu der Bühne. Dort angekommen half Gervo ihr hinauf und umarmte sie. Dann stand sie vor Ranajea und verbeugte sich tief. Die Herrscherin erwiderte die Geste und lächelte strahlend. Dann wandte sie sich wieder den anderen Gästen zu.
„Der zweite Auserwählte von Belvêo ist Mantino, der, der mit Geschick geboren wurde!"
Schon beim ersten Wort war mir das Herz bis in die Füße gerutscht. Meine Hände ballten sich zu Fäusten und ich atmete tief ein und aus, versuchte, wieder Herrin über mich selbst zu werden. Eine Hand legte sich auf meinen Arm und spendete mir Trost. „Alles wird gut", flüsterte die Stimme meines Vaters, und ich hielt mich an ihrem Klang und an ihrer Botschaft fest.
Wieder gab es Applaus, wieder schlängelte sich ein glücklicher Schüler durch die Reihen und betrat die Bühne, wurde von Ranajea und Gervo empfangen und stellte sich an den Rand. Ich sah, dass Gia und Mantino sich umarmten und sich leise beglückwünschten. Zwei tolle und talentierte Menschen. Wer war ich, dass ich mich an ihrer Seite sah?
Die Geräusche vermischten sich zu einem einzigen, monotonen Rauschen. Ich hörte nur noch mein Herz, das ohne Unterlass schlug und mich am Leben hielt, als wäre es eine Maschine, die alles geben musste, damit die Arbeit verrichtet werden konnte.
Und inmitten dieses Rauschens, das laut, aber nicht laut genug war, um mein Herz zu übertönen, hörte ich eine Stimme, die mein Bewusstsein wie ein Pfeil durchdrang. Und plötzlich wurde ich so ruhig, wie ich es seit vielen Jahren nicht mehr gewesen war, so wirklich und wahrhaft selbstsicher, wie seit langer Zeit nicht mehr.
„Und die letzte Auserwählte von Belvêo ist Limeana, die, die die Wahrheit erkennt!"
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Seelenwahrheit - Runde 1
FantasyLimeana verlor fast alles, was ihr lieb war- ihre Mutter, ihre Schwester und das Leben, das einst zu ihr gehört hatte. Doch auf wundersame Weise scheint sie eine neue Chance zu bekommen, eine Chance, die ihr Leben verändern wird. Jedes Jahr wählt...