Kapitel 7: Das richtige Kleid (II)

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Atemberaubend. Anders konnte man das Kleid, das perfekt an meinen Körper passte, nicht beschreiben. Ich war gleichzeitig sprachlos vor Staunen und Entsetzen, und es war mir unmöglich, diese widersprüchlichen Empfindungen in Worte zu fassen. Deswegen stand ich einfach nur da und schaute in den Spiegel, nicht sicher, ob diese Person, die mir aus ernsten braunen Augen entgegenblickte, wirklich ich war. Unsicher drehte ich mich ein wenig zur Seite, um das Kleid von allen Seiten betrachten zu können.

Es reichte mir bis zur Wade und fiel in sanften Falten um meine Beine. Obwohl es mehrere Lagen Stoff waren, fühlte der Rock des Kleides sich leicht an, so leicht, als ob ich damit fliegen könnte. Am Bauch wurde das Kleid enger und schmiegte sich an mich, wie eine zweite Haut. Lange Ärmel bedeckten meine gesamten Arme, Schlüsselbeine und Schultern hielt das Kleid jedoch frei. Glasperlen bildeten ein wunderschönes Muster um meine Taille herum, dass sich auf den Rock des Kleides ausweitete.

In diesem Kleid würde ich nicht unauffällig aussehen. Ich würde herausstechen und Blicke auf mich ziehen, denn dieses Kleid brachte alles an mir zur Geltung, das in irgendeiner Form bemerkenswert war.

„Du siehst wunderschön aus", sagte Mena und lächelte mich strahlend an.

Ich warf ihr einen schnellen Blick zu und lächelte ein wenig gequält. „Das ist nicht unauffällig."

„Ich weiß", sagte Mena und stellte sich hinter mich. Sie legte ihre Hände an meine Schultern und lehnte ihre Wange gegen meine, sodass wir gemeinsam in den Spiegel schauten. „Aber es ist auch nicht auffällig. Es passt perfekt zu dir. Als du es angezogen hast, war es sofort perfekt.

Ich atmete tief ein und aus. Mein Widerstand bröckelte bereits, denn ich musste zugeben, dass er von Anfang an sehr gering gewesen war.

So hatte ich mich nämlich niemals gesehen. Als ein anmutiges, ja sogar schönes und zartes Mädchen. Denn im Normalfall war ich das auch nicht. Doch das alles hier, war nicht normal. Also musste ich es auch nicht sein.

„Du musst es so sehen", fuhr Mena fort und lächelte ihr typisches, strahlendes Lächeln. „Es ist wie eine Herausforderung. Du liebst doch Herausforderungen. Beweise dir selbst, dass du auch in einem Kleid, das dich nicht klein und unscheinbar macht, du selbst sein kannst."

„Die Leute werden mich ansehen", entgegnete ich, obwohl ich längst nicht mehr vorhatte, dieses Kleid nicht zu wählen.

„Stimmt", sagte Mena und zuckte mit den Achseln, „weil du wunderschön aussiehst und es verdienst, gesehen zu werden."

„Was ist, wenn ich das gar nicht will?" Ich drehte mich zu meiner besten Freundin um.

Ernst sah sie mich an. „Manchmal muss man Dinge tun, die einem nicht gefallen. Das ist nun einmal der Preis dafür, dass du an der Suche teilnehmen darfst. Denk an deine Zukunft, die Chancen, die sich dir bieten. Das darfst du nicht wegwerfen. Und jetzt musst du dich dafür entscheiden, ob du dazu bereit bist diesen kleinen Preis zu zahlen, Limmy."

•••

Die Seelensuche. Ein Ereignis, dessen Bedeutung größer war, als man es sich vorstellen konnte.

Wenn ein Mensch starb, dann blieb die sterbliche Hülle zurück, während die Seele ins Seelenland wanderte. Ein Land, das anders war, als das, das die Leute kannten. Denn die Menschen dort bestanden nur noch aus Energie, aus einer Stimme und einem Licht, dass hell strahlte, wie ein Stern. Zumindest hatte man es uns so beschrieben.

Jemand, der das Glück hatte, jemals bis in den Kern des Seelenlandes vorzudringen, konnte eine Verbindung mit einer Seele eingehen, einer Seele, die die eigene ergänzte und vervollständigte, und einem damit große Kräfte verlieh. Mit dieser Vereinigung zweier Seelen war es der verstorbenen Seele möglich, zurück ins Land der Lebenden zu kehren, um dort wieder eine menschliche Hülle anzunehmen.

Es war bei weitem nicht jedem vergönnt, eine Bindung mit einer anderen Seele einzugehen. Jedem Kind wurde bei der Geburt eine Gabe verliehen, eine Gabe oder auch ein Schicksal, das das Leben des kleinen Menschen unwiderruflich beeinflusste. Denn sie wirkten sich auf die Stärken und Schwächen eines jeden aus, und diejenigen, die talentiert genug waren, durften ab dem Alter von 10 Jahren die Seelenakademie des jeweiligen Landteils besuchen. Nach sechs Jahren intensivem Unterricht, fanden im letzten Schuljahr dann die Auswahlen für die Seelensuche statt. Dabei wurden die Schülerinnen und Schüler vor allem nach den Leistungen bewertet, die sie in den vergangenen Schuljahren erbracht hatten.

Seit Beginn meiner Schullaufbahn hatte ich daran gearbeitet, auserwählt zu werden. Aus irgendeinem Grund war ich nämlich zu Belvêos Seelenakademie zugelassen worden, und das obwohl sich meine Gabe nie in irgendeiner Form ausgedrückt hatte. Bis heute hatte ich kein bisschen von ihr gespürt. Genau genommen hatte ich nicht einmal eine Ahnung, um was es sich bei meiner Gabe überhaupt handelte. Doch trotz all dieser Hindernisse hatte ich es geschafft. Und ich war fest entschlossen, die drei großen Hindernisse zu überwinden, die das Seelenland vom Land der Lebenden trennte.

Ich wusste, dass es nicht einfach war, diese große Grenze zu überschreiten, und mir war auch bewusst, dass dafür zwölf andere Kandidaten niemals einen Fuß in den Kern des Seelenlandes setzen würden. Und ich würde Gia und Mantino irgendwie aus dem Spiel ziehen.

Mein Magen zog sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen. Ich wollte ihnen diese Chance nicht nehmen, und doch blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich das erreichen wollte, auf das ich sechs lange Jahre gewartet hatte. Auf das ich mich so lange vorbereitet hatte und wofür ich so hart daran gearbeitet hatte, das Beste aus mir herauszuholen.

Es brannte unter meiner Haut, wenn ich daran dachte, wie hinterhältig ich in dieser Suche dieses Spiel spielen würde, doch es raubte mir jegliche Luft zum Atmen, wenn ich auch nur versuchte mir vorzustellen, diese Chance zu verpassen.

Manchmal fühlte es sich so an, als hätte ich für diese eine Chance alles aufgegeben. Ich bereute es nicht, es getan zu haben, denn es hatte sich gelohnt. Ich war eine Auserwählte. Und doch erfüllte es mich mit einer seltsamen Wehmut, wenn ich daran dachte, was ich hätte haben können, wenn ich ein normales Leben gehabt hätte. Wenn ich nicht fast alles verloren hätte, was mir wichtig war.

Doch ich würde mir dieses alte Leben zurückholen, um endlich wieder glücklich zu werden. Denn ich wusste, dass ich es nie wieder werden könnte, wenn ich diese eine, kleine Chance verpasste.

Seelenwahrheit - Runde 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt