Ganz allein stolperte der kleine Junge durch den winterlichen Wald. Seine Tränen waren für den Moment versiegt, doch deutlich konnte man noch ihre Spuren in dem dreckigen Gesicht sehen. Inzwischen fror das Kind fürchterlich in seiner dünnen Kleidung und auch die Zehen in den durchnässten Schuhen waren längst blau gefroren.
Fest drückte er ein schmutziges Tuch an den schmächtigen Körper. Doch für ihn war es kein bloßes Tuch. Seine Mutter hatte es ihm genäht. Wenn man genau hinsah, konnte man abgenähte Arme und Beine, sowie einen Kopf mit einem aufgestickten Gesicht erkennen.
Es war das wertvollste, was das Kind besaß.
Es war die letzte Erinnerung an seine Mutter.
Erneut flossen stumme Tränen über das kleine Gesicht. Er vermisste seine Mutter, doch sie würde ihn nie wieder in ihre Arme schließen.
So kalt und heftig wie dieser Winter war, so heiß und trocken war der Sommer gewesen.
Nicht nur die Ernte seiner Familie war verdorrt, auch den anderen Familien war es ähnlich ergangen. Jeder im Dorf war hungrig gewesen, doch am schlimmsten hatte es seine Mutter getroffen. Sie hatte das wenige, das sie hatte, zum Großteil an ihren Erstgeborenen abgetreten, damit wenigstens der Junge nicht vor Hunger wach im Bett liegen musste.
Doch dadurch hatte ihr Körper keine Kraft gehabt, als mit der großen Kälte das Fieber kam.
Weinend war der Junge über dem leblosen Körper seiner Mutter gelegen und hatte sich erst von ihm gelöst, als sein Vater gewaltsam die kleinen Hände vom kalten, leblosen Körper der Mutter gelöst hatte.
Tröstende Worte hatte er keine gehabt für das Kind. Dafür Schläge und Beschimpfungen.
„Hör auf zu heulen, wie ein Mädchen. Jungen weinen nicht." hatte er ihn angefahren und ihm eine Ohrfeige verpasst, dass der Handabdruck des Vaters noch eine Stunde später zu sehen gewesen war.
Leise begann der Junge zu schluchzen und legte die Hand bei der Erinnerung an seine Wange. Dann zuckte er jedoch zusammen und biss sich auf die Lippe. ‚Bloß nicht weinen...' dachte er.
Völlig erschöpft ließ sich das Kind auf einen Baumstamm sinken.
Einen Monat war es her, dass seine Mutter ihn verlassen hatte.
Er hatte sich wirklich gefreut, als sein Vater ihn heute mit in den Wald nehmen wollte.
Er hatte sich auch nichts dabei gedacht, als sein Vater ihn auf einen Baumstumpf gesetzt hatte.
Nicht einmal, als er mit den Worten „Warte hier auf mich, ich bin gleich zurück." gegangen war, hatte er sich etwas dabei gedacht.
Doch eine Stunde später war dem Kind klar gewesen: der Vater würde nicht zurück kommen.
Seit Stunden stolperte er nun schon durch den Wald, versuchte, den Heimweg zu finden, versuchte, sich warm zu halten.
Zu allem Überfluss war auch noch ein Schneesturm aufgezogen.
Zitternd am ganzen Körper und von der Erschöpfung überwältigt rollte sich das Kind unter den tief hängenden Ästen einer Tanne zusammen. Er wollte nur noch schlafen.
Kurz darauf umarmte ihn eine gnädige Dunkelheit, doch noch immer umklammerten die kleinen, vor Kälte starren Finger, den Fetzen Stoff. Er bekam nicht mehr mit, wie sich eine fremde Gestalt ihm näherte.
Wärme war das erste, was der Junge spürte.
Eine so intensive, angenehme Wärme, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte.
Das musste der Himmel sein, von dem seine Mutter ihm erzählt hatte.
Er lächelte glücklich. Seine Finger krallten sich in etwas Weiches. So warm und so weich...Das musste wirklich der Himmel sein. Bald würde er seine Mutter wieder sehen.
Dann nahm er auf einmal ein Prasseln wahr, wie von einem Kaminfeuer. Er runzelte die Stirn. Gab es im Himmel Kamine?
Eine leise, ruhige Stimme erklang. „Ich glaube, er wacht auf, Prinz Aaron."
Ruckartig öffnete der Junge die Augen und blickte sich panisch um.
Er lag in einem fremden Zimmer auf dem Boden, gebettet auf mehrere weiche Felle. Neben ihm im Kamin brannte ein loderndes Feuer.
Mit vor Angst geweiteten Augen blickte das Kind in die Augen eines anderen Jungen, der in seinem Alter sein musste und ihn strahlend ansah. Doch neben dem Jungen saß eine Königswache. Eine der Wachen also, vor denen sein Vater ihn gewarnt hatte.
Im nächsten Moment saß das eben erst erwachte Kind und wich panisch zurück, bis es von der Wand in seinem Rücken gestoppt wurde.
Erneut begann es zu zittern. Dieses Mal jedoch nicht vor Kälte, sondern vor Angst.
Hektisch blickte es sich um. Dort, auf den Fellen lag sein Tuch, doch es gab keine Möglichkeit, dieses zu erreichen.
Der andere Junge, den die Wache Prinz Aaron genannt hatte und der wie er vielleicht vier Jahre alt war, trat an die Felle und hob das Tuch auf. Langsam und behutsam ging er auf das andere Kind zu und reichte ihm den Fetzen Stoff.
Das Kind riss ihm den Stoff fast schon aus der Hand und drückte ihn fest an sich.
„Ich bin Aaron." stellte sich der Junge vor. „Und wie heißt du?"
Das Kind zögerte und blickte Aaron an, dessen Augen seltsamerweise immer wieder rot aufblitzten. „Ich heiße Dimitri." antwortete er dann leise und blickte wieder auf den Boden.
Als Dimitri den Blick wieder hob, erschrak er erneut und wimmerte leise. Neben der Wache stand auf einmal ein weiterer Mann. Er war groß und wirkte sehr streng. Gleichzeitig strahlte er auch etwas majestätisches aus. Sofort eilte Aaron an die Seite des Mannes.
Dimitri biss sich nachdenklich auf die Lippe. War das etwa der König?
Eine ganze Weile musterte der Mann ihn schweigend.
„Komm zu mir, Junge." forderte er Dimitri dann zwar freundlich, aber dennoch mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, auf.
Zögerlich stand Dimitri auf. Das Tuch mit beiden Händen umklammert ging er unsicher auf den Mann zu und blieb ängstlich vor diesem stehen.
Auf einmal legte sich eine kühle Hand auf seine Schulter. Dimitri erschauderte und zuckte zusammen. „Ich bin König Andros." stellte er sich vor. „Und du bist also Dimitri?"
Zögerlich nickte Dimitri, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.
„Raphael hier hat dich im Wald gefunden..." ergriff der König erneut das Wort und deutete auf die Wache an seiner Seite.
„Bist du von zu Hause weggelaufen?" hakte Andros dann nach. Jetzt, wo Dimitris Körper wieder aufgewärmt war, konnte man deutlich die vielen blauen Flecken, die zum Teil eindeutig Abdrücke von Fingern waren, sehen.
Dimitri schüttelte den Kopf und schluchzte leise auf. Sofort biss er sich auf die Lippe und blickte ängstlich zu Andros.
Nachdenklich musterte dieser den verängstigten Jungen.
„Bis wir deine Eltern gefunden haben, bleibst du hier bei uns auf der Burg." erklärte er dann.
Panisch weiteten sich Dimitris Augen und er schüttelte heftig den Kopf.
Auch wenn er sein Vater war, er wollte nie wieder zu diesem Mann zurück, der ihn ohnehin nicht haben wollte.
In diesem Augenblick realisierte der Knabe, dass er allein auf der Welt war. Er hatte niemanden mehr. Er hatte alles verloren.
Stumm begannen erneut Tränen über sein Gesicht zu fließen.
Wortlos zog Andros Dimitri an seine Brust und strich ihm beruhigend über den Rücken.
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Dimitri
VampireEin kleiner Spin-off zu meiner Finya Geschichte. Einsam und allein stapft Dimitri als Kind durch den kalten Winterwald. Schon drohen die Kräfte ihn zu verlassen. Eine glückliche Fügung wird sein Leben für immer ändern und mit der Zeit wird er zu...