Nach dem überaus stillem Abendessen hatte ich mir mein Zeichenzeug geschnappt und war nach draußen in den Rosengarten gegangen, um noch ein wenig zu zeichnen.
Die Abendsonne tauchte alles in ein warmes, goldenes Licht und mit meinem Zeichenbuch Nummer 18 bewaffnet, ließ ich mich im Gras nieder und schlug es auf. Viele Seiten blieben mir nicht mehr und ich musste mich schleunigst nach einem neuen Skizzenbuch umsehen. Sicher gab es hier in Avaglade auch einen Schreibwarenladen.
Ich griff nach meinem Lieblingsbleistift (der mittlerweile ziemlich klein war und den ich demnächst bald in die Friedhofsbox für Bleistifte legen würde) und begann die Efeuüberwucherte Engelsstatue zu skizzieren, die neben einem dichten Rosenbusch thronte und mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht zu Boden sah.
Ursprünglich schien die Statue mal aus weißem Marmor gewesen zu sein, aber die Zeit und das Wetter, hatten sie ergrauen lassen, was ihr aber nur einen gewissen Charme verlieh. Und weil es in meinem Skizzenbuch nicht eine Seite gab, auf der es nicht um Fantasy-Wesen ging, skizzierte ich um die Statue herum einen kleinen Teich mit Seerosenblättern, auf denen kleine Feen saßen und verträumt in Richtung Himmel schauten.
Lächelnd betrachtete ich mein Werk und wollte nach dem Radiergummi greifen, um etwas auszubessern. Aber ich griff ins Leere und hob verwirrt den Blick.
Mein Radiergummi lag gut einen Meter von mir entfernt im Gras und stirnrunzelnd packte ich mein Skizzenbuch zur Seite und streckte mich, um meinen Radiergummi wieder an mich zu nehmen.
Als ich mich wieder meiner Zeichnung widmen wollte, war mein Bleistift weg, den ich unter den Rosenbüschen wieder fand. Beim Versuch ihn zu greifen, zerkratzte ich mir die Hand an den Dornen und fluchend umfasste ich den Bleistift und richtete mich wieder auf. Doch damit hatte sich das nicht erledigt.
Als ich mich erneut an meine Zeichnung setzten wollte, lag mein Skizzenbuch geschlossen dar, obwohl ich mir zu einhundert Prozent sicher war, dass ich es offen gelassen hatte und meinen Radiergummi darauf abgelegt hatte, der jetzt wieder ein ganzes Stück entfernt im Gras lag.
„Was zum Teufel...", entfuhr es mir und genervt nahm ich meine Stifte, den Radiergummi und das Skizzenbuch an mich. Ich atmete kurz durch und schlug das Skizzenbuch wahllos aus. Das Bild eines Gnoms lächelte mir entgegen und unweigerlich fiel mir wieder ein, was meine Mutter immer über Gnome erzählt hatte.
„Gnome sind überaus schelmische Wesen. Kein Tag vergeht, an dem sie nicht mindestens einer Person einen Streich spielen. Sie machen so oft Späße und erzählen kleine Lügenmärchen, so dass man nie genau weiß, wann ein Gnom die Wahrheit sagt. Aber glaub mir Erin, sie sind die liebevollsten, witzigsten verständnisvollsten Freunde, die du dir vorstellen kannst!"
Schnell blätterte ich weiter, bis ich wieder bei meiner Zeichnung ankam. Zögernd legte ich den Bleistift ins Gras und besserte die missglückten Linien mit dem Radiergummi aus, immer mit einem kurzen Blick zum Bleistift, der noch genau dort lag, wo ich ihn abgelegt hatte. Äußerst seltsam...
Wäre es denn wirklich möglich, dass so etwas wie Gnome wirklich existierten? Es gab nicht umsonst Märchen und Sagen und hieß es nicht, dass an jedem Märchen ein wahrer Kern steckte?
Ich nahm den Bleistift wieder an mich und legte den Radiergummi ins Gras.
Es war ein anstrengender Tag. Du bildest dir was ein Erin. Bestimmt ist der Bleistift unter den Busch gerollt, als du dich nach dem Radiergummi gestreckt hast. Und...
„Hey!", rief ich und griff nach dem Radiergummi, der sich jetzt gerade von mir wegbewegte. Als ich den weichen Gummi berührte wurde ein kleines, Kniehohes Männchen sichtbar, der sich kichernd ins Gras fallen ließ.
Er trug eine blaue, kleine Hose, die ihn bis zu den Knien reichte. Die kleinen Füße steckten in schwarzen Stiefelchen und obenrum trug er ein rotes, sackähnliches Shirt mit brauner Weste. Das pausbäckige Gesicht, mit roten Wangen grinste mich an und die blonden Haare standen zu allen Himmelsrichtungen ab. Die kleinen, schwarzen Äuglein funkelten amüsiert und ich musste unweigerlich lächeln.
„Man fragt vorher, wenn man sich etwas ausleihen will!", ermahnte ich nicht ganz ernst gemeint und der Gnom kicherte.
„Din Gesischt! Din Gesischt muscht'e seh'n!" Lachend rollte sich der kleine Körper im Gras, was mich schmunzeln ließ. „Du bist ein Gnom richtig?", fragte ich und blätterte die Seite um.
Ohne meinen Blick von dem kleinen Wesen zu nehmen, huschte mein Bleistift über das Papier. „Ja, und du bischt'e Mensch. Und du kannscht'e misch seh'n", sagte er und setzte sich auf.
„Ist das so ungewöhnlich?", fragte ich und warf einen kurzen Blick auf die Skizze. Sie war gut und ich fing an, sie auszubessern. Neugierig kam der Gnom näher und beäugte die Skizze. Seine vierfingrige kleine Hand legte sich vorsichtig auf meinen Schuh und dann weiteten sich seine kleinen Augen begeistert.
„Dis bin isch! Dis bin isch!", rief er und klatschte in die Hände. „Du malscht'e misch!" Ich lächelte und schaffte es, den begeisterten Ausdruck seiner Augen in meine Zeichnung zu integrieren. Fasziniert sah der Gnom mir dabei zu, legte den Kopf schief, murmelte leise und begeistert vor sich hin und klatschte hin und wieder in die Hände.
Anhand seines pausbäckigen Gesichtes und dem ehr kindlichen Aussehen, sowie der Größe wusste ich, dass es sich bei diesem Gnom um ein noch sehr junges Exemplar handeln musste. Denn erwachsene Gnome konnten durchaus Hüfthöhe erreichen.
Mum hatte mir das Gnomvolk in ihren Geschichten sooft beschrieben und früher waren kleine Gnomkinder immer Teil ihrer Märchen gewesen, die sie mir vor dem Einschlafen erzählt hatte.
In ihren Geschichten hatten die Gnome genauso gesprochen, wie dieser kleine Kerl hier, was mich als Kind immer zum Lachen gebracht hatte.
„Die meisten Gnome sprechen natürlich auch unsere Sprache akzentfrei!" Hatte sie mir versichert. Und jetzt saß ich hier im Gras in einem Rosengarten und zeichnete einen kleinen Gnom, der tatsächlich vor mir stand.
„Ich bin übrigens Erin", sagte ich und sah den Gnom kurz an, um die kleine Stupsnase so detailgetreu wie möglich zu halten.
„Isch bin Bobtail von Bobbelton. Mam's nennst'e misch Bob", sagte er und klatschte erneut verzückt in die Hände, als ich zu den Buntstiften griff und anfing seine Kleidung mit Farbe zu versehen.
„Freut mich sehr Bobtail von Bobbelton. Darf ich auch Bob sagen?", fragte ich höflich. Der kleine Gnom nickte begeistert und sah wieder auf das Bild von sich. „Dis bin isch", sagte er wieder begeistert und ich überlegte bereits, wie ich die Seite aus meinem Buch reißen konnte, ohne größeren Schaden zu verursachen. Sicher würde sich Bob freuen, wenn ich ihm die Zeichnung überließ.
Doch der begeisterte Ausdruck in seinen Augen, wich einem Ausdruck von Furcht und augenblicklich verschwand der kleine Kerl. Nur das Rascheln der Rosenbüsche deutete daraufhin, dass er sich dahin verkrümelt hatte. Ich sah mich nach dem Grund des plötzlichen Verschwindens von Bob um und entdeckte meinen Onkel, der über die Wiese kam. Ich schlug mein Skizzenbuch zu und stand auf.
„Hier bist du", sagte er und sah mich an. „Ist alles okay?" Ich nickte und sammelte meine Sachen ein. „Klar, wieso?" Ich hob den Radiergummi auf und ließ ihn schmunzelnd in meiner Hosentasche verschwinden. Meine Frage nach dem Wieso beantwortete mein Onkel mir nicht. Stattdessen sah er meine Hand an.
„Was ist passiert?", fragte er und deutete auf die Kratzer, die die Dornen der Rosensträuße hinterlassen hatten.
Ich zuckte mit den Schultern. „Mein Bleistift ist unter die Rosenbüsche gerollt und ich beim Versuch ihn wiederzuholen, habe ich mich gekratzt. Ist halb so wild", sagte ich gelassen und noch immer ganz verzückt über die Begegnung mit Bob.
„Celestine soll sich das ansehen und desinfizieren. Komm", sagte er und schob mich in Richtung Haus. Mir entging nicht, dass er sich noch einmal umdrehte, als wir im Begriff waren durch die Glastür die zum Salon (also eigentlich nur ein übergroßes Wohnzimmer) führte hindurchzutreten. Auch ich sah noch einmal nach draußen, konnte aber nirgendwo eine Spur von dem kleinen Gnom namens Bob erkennen.
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Avaglade - Die Hüter von Lavandia (Buch 1)
FantasyWie würdest du reagieren wenn du erfährst, dass all die magischen Wesen von denen wir in Büchern lesen, wirklich existieren? Für Erinna wird damit ein Traum wahr. Schon immer hat Erin die Geschichten über magische Wesen und Hüter von fremden Welten...