4. Kapitel - Henry

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Ich war hundemüde und genervt. Und das merkte Nael deutlich, was er allerdings geflissentlich (und wahrscheinlich aus Höflichkeit) ignorierte. Er lief aufmerksam neben mir her, immer auf mögliche Gefahren bedacht. 

Ich hingegen hing im Sattel wie ein Schluck Wasser in der Wüste. Zum Glück war Salima, meine weiße Schimmelstute, so folgsam, dass sie ruhig neben Nael her lief, obwohl ich die Zügel so locker hielt. Vielleicht stimmte es aber auch, was mein Vater über die Pferde sagte und sie wussten einfach immer ganz genau, wohin sie gehen sollten.

„Für Sie beginnt heute die Menschenschule, nicht war Sir?" Ich bedachte Nael mit einem genervten Blick. „Ja... Deshalb frage ich mich was so wichtig ist, dass Yilva mich so früh am Morgen sehen will", antwortete ich und gähnte. 

Denn - bei der großen Elfenkönigin Ava - es war noch nicht einmal sechs Uhr und eigentlich könnte ich noch locker eine Stunde schlafen, ehe ich zur Schule müsste. Nicht einmal Zeit für einen Kaffee hatte mein Vater mir gegönnt. Er hatte mich um vier Uhr morgens geweckt, mit den Worten, dass Yilva mich sprechen wollte. Ich würde Hector bitten müssen, am Café Sonnenschein anzuhalten. Denn ich bezweifelte stark, dass ich nach meiner Rückkehr noch Zeit hatte einen Kaffee zuhause zu trinken.

„Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Mein Auftrag ist es lediglich, Sie sicher zum Palast zu geleiten!" Ich verdrehte die Augen und richtete mich im Sattel auf. Wir waren fast da und ich wollte ungern so würdelos im Sattel hängen. Stattdessen fing ich an darüber nachzudenken, was so wichtig sein konnte. 

Yilva hatte ausschließlich nach mir verlangt. Oder aber mein Vater war zu faul, um sich selbst aufs Pferd zu schwingen und zum Palast zu reiten. Das war sogar ziemlich wahrscheinlich. Denn seit ich vor zwei Jahren 15 geworden war, hatte er fast alle Aufgaben als Hüter an mich übertragen. Selten erledigte er noch persönlich Hüteraufgaben, wie Streitigkeiten zwischen den Völkern zu schlichten oder sich mit der Elfenkönigin Yilva zu treffen. Das durfte ich übernehmen, nur um ihn dann zu informieren.

„Irgendwas musst du doch aber wissen Nael", sagte ich und sah ihn an. Der Elf antwortete nicht, sondern lief so entspannt neben mir her, dass ich ihm am liebsten was gegen den Kopf geworfen hätte. 

Die dunklen Haare hatte er nach hinten gekämmt, sodass die spitzen Elfenohren deutlich zu sehen waren. Die stechend blauen Augen waren zielsicher auf den Weg vor uns gerichtet, aber nicht ohne hin und wieder den Blick durch die Bäume huschen zu lassen. Elfen waren so aufmerksam und vorsichtig. Immer darauf vorbereitet, mögliche Gefahren abwenden zu können.

„Komm schon", versuchte ich es weiter, obwohl ich die Türme des Palastes bereits sehen konnte. Wir waren fast da, also würde ich sowieso gleich erfahren, was Yilva von mir wollte. „Tut mir leid Sir, ich weiß nichts", sagte Nael und lächelte. Ich seufzte. 

„Na schön. Dann machen wir ein Wettrennen zum Palast!", sagte ich und gab Salima bereits das Zeichen. Sofort preschte sie los und wir ließen den lachenden Nael hinter uns, der sich keine Mühe machte, uns einzuholen. Wir wussten beide, dass keine Gefahr drohte und ich (wenn Nael gewollt hätte) eh keine Chance auf einen Sieg gehabt hätte.

Im Palast war es ruhig, was aber nicht daran lag, dass das gesamte Personal von Königin Yilva noch schlief, sondern es war deshalb so ruhig, weil Elfen die Fähigkeit besaßen, sich völlig lautlos zu bewegen. Demzufolge wusste Yilva schon bevor ich überhaupt in der Nähe ihres Thronsaals war, dass ich da war. Meine Schritten hallten nämlich so laut über die hellen Steinböden, dass wahrscheinlich auch der alte Gambitz im Turm mich hören konnte.

„Henry!" Yilva begrüßte mich lächelnd und stand von ihrem Thron auf, als ich den Saal betrat. Ihre Leibwächter blieben rechts und links neben dem Thron stehen, als sie auf mich zukam und mich fröhlich umarmte. „Du wolltest mich sprechen", sagte ich und sah auf sie herunter.

Obwohl Yilva über einhundert Jahre alt war, sah sie aus wie Anfang zwanzig. Sie war klein und zierlich und reichte mir gerade so bis zur Brust. Wie immer trug sie ein weißes, bodenlanges Kleid, dessen Saum verdeckte, dass sie barfuß war. Die langen, nussbraunen Haare fielen ihr offen über die Schulter und bedeckten die spitzen Elfenohren. Die fröhlich funkelnden, grünen Augen musterten mich freundlich. Wie immer sah sie einfach großartig aus. Und wie immer wusste sie ganz genau, wie ich mich fühlte.

„Du siehst müde aus", sagte sie und führte mich zu der großen, gläsernen Flügeltür, die in den Rosengarten führte. Die ersten Sonnenstrahlen tauchten alles in ein warmes, goldenes Licht und erinnerten mich daran, dass ich noch im Bett liegen und schlafen könnte. „Du hast mich in aller früh hierher beordert. Entschuldige bitte, wenn ich nicht aussehe wie das blühende Leben", gab ich zurück und Yilva kicherte. „Verzeih mir bitte. Es ist wichtig!" Ohne mich anzusehen, ging sie vor dem Teich in die Knie und strich über die Wasseroberfläche. Ich trat näher heran und wartete.

„Du hattest wieder eine Prophezeiung", sagte ich, als auch nach drei Minuten immer noch nichts passierte. Yilva seufzte. „Ja, und sie ist beunruhigend. Aber ich habe noch etwas. Hier", sagte sie und zog einen Brief aus der kleinen Tasche an ihrem Kleid hervor. 

„Ich fürchte das darin Geschriebene, wird deinem Vater gar nicht gefallen!" Ich runzelte die Stirn und nahm den Briefumschlag entgegen. Das Wachssiegel hatte das Wappen von Merylin. „Was steht drin?", fragte ich, wohlwissend dass sie mir nicht antworten würde. „Henry..." „Schon gut. Du kannst es mir nicht sagen", unterbrach ich sie sofort. „Sonst noch was?" Yilva wollte gerade antworten, als ein plötzlicher Windstoß durch den Garten fegte.

„Tod und Vernichtung seit Anbeginn der Zeit, die Familien auseinander reißt. Die Erben der Erben ständig erloschen, die Blutlinie wieder durchbrochen. Erlischt die Linie wird Frieden vergehen. Tod und Vernichtung bleibt für Immer bestehen..."

Die Worte wiederholten sich noch zweimal, dann kehrte auf dem kleinen Teich wieder Ruhe ein und ich sah Yilva an. „Das ist sie?" Sie nickte. „Was hat die Prophezeiung zu bedeuten?" 

„Darüber beraten Merylin und ich uns noch. Sowie ich das verstanden habe, warnt die Prophezeiung uns vor Tod und Vernichtung im Zusammenhang mit den Hüterfamilien", sagte Yilva und stand auf. Langsam gingen wir wieder in den Thronsaal.

„Also so ähnlich wie die Prophezeiung, die jetzt seit 500 Jahren unerfüllt ist?" Yilva schüttelte ganz leicht den Kopf und ihre Leibwächter folgten uns mit etwas Abstand, als wir durch den Saal nach draußen gingen. Dorthin, wo Nael mit meinem Pferd wartete.

„Die Prophezeiung von vor 500 Jahren sagt vor allem voraus, dass es nie einen wirklichen Frieden in Lavandia geben kann, solange es zwei Hüterfamilien gibt. Diese Prophezeiung allerdings warnt davor, dass die Blutlinie der Hüter nicht erlöschen darf. Und das steht in einem völligen Widerspruch. Wir werden demnächst auch mit deinem Vater und William sprechen müssen. Diese Prophezeiung ist besorgniserregend. Im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen, fürchte ich, dass etwas schlimmes passieren wird!" Nael gab mir die Zügel meines Pferdes und ich schwang mich leichtfertig zurück in den Sattel. Yilva sah zu mir hoch.

„Die Völker streiten sich immer mehr. Unruhe liegt in der Luft und ihr Hüter habt so viel zu tun wie noch nie. Die Zwerge und die Gnome geraten immer häufiger aneinander. Die Zentauren verweigern jegliche Treffen, die Waldriesen beschweren sich über die Steintrolle und die Steintrolle kommen mit den Feen nicht klar. Ich bin ehrlich besorgt und... und habe wirklich Angst, dass es einen erneuten Krieg geben könnte", sagte sie leise und in ihrem Blick lag tatsächlich blanke Angst. 

Ich hätte am liebsten etwas beruhigendes gesagt, aber mir wollte partout nichts einfallen. Deshalb lächelte ich nur aufmunternd und wendete Salima. 

„Mach dir keine Sorgen. Bis jetzt haben wir doch immer das Schlimmste verhindern können", sagte ich und Yilva nickte, wenn auch nicht überzeugt. 

„Sei vorsichtig Henry...", murmelte sie, ehe ich Salima anspornte und zurück nachhause ritt. Die Müdigkeit war vergangen, aber dieser Effekt würde nur bis zur ersten Stunde halten. Zum Glück war heute nur der erste Schultag...

Avaglade - Die Hüter von Lavandia (Buch 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt