22. Kapitel - Henry

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Wie es die Tradition besagte, hatten wir uns alle vor dem kleinen Teich im Halbkreis aufgestellt und warteten, bis Yilva mit der neuen Hüterin kommen würde.

Automatisch hatte ich die Bilder meiner Hüterzeremonie im Kopf und erinnerte mich an das Gefühl von Nervosität und Aufregung, welches ich verspürt hatte. Es war beängstigend und gleichzeitig magisch gewesen, als Yilva mich in den Garten geführt hatte, wo alle warteten.

Die Schritte von McAlistair und Erinna wurden lauter und dann traten sie aus dem Thronsaal heraus und Yilva lächelte besonnen in die Runde.

Wie es Brauch war, sagte niemand ein Wort und alle senkten den Blick, um der Königin und der zukünftigen Hüterin Respekt zu erweisen.

Mir war nicht entgangen, dass Erinna nervös ausgesehen hatte und kurz zögerte, ehe sie Yilva nach draußen folgte. Ich sah deutlich, dass sie angespannt war, denn sie hatte die Finger in den Stoff des weißen Leinenkleides gekrallt, welches sie entsprechend der Tradition trug.

Yilva ging anmutig auf den Teich zu und Erinna folgte ihr langsam und mit etwas Abstand. Ihr Blick huschte dabei hin und her und erst jetzt fiel mir auf, dass ich den Blick nicht gesenkt hatte, so wie die anderen, wie es eigentlich Brauch war. Schnell sah ich zu Boden und spürte, wie Yilva an mir vorbei zog und wir alle drehten uns um, als wir sie ins Wasser gehen hörten.

Ich hatte geglaubt Erinna würde zögern ihr zu folgen, aber ich schätzte, dass McAlistair ihr erklärt hatte, was genau passierte und was sie tun musste. Ohne auch nur die Miene zu verziehen (und ich wusste wie kalt das Wasser war) folgte sie Yilva Hüfttief ins kühle Nass. Und wieder fiel mir auf, dass ich mich nicht an die Etikette hielt und Erinna und Yilva beobachtete.

Kaum standen beide Frauen im Wasser, verneigten wir uns und Yilva hob die Hände zum Himmel und lächelte, als die letzten Sonnenstrahlen ihre Haut berührten.

„Sei gegrüßt Lavandia!", rief sie aus und ein leises Murmeln unsrerseits erwiderte ihren Gruß. Erst jetzt hoben alle anderen ihre Blicke und sahen die Königin und die neue Hüterin abwartend an.

„So wie es seit Jahrhunderten Brauch ist, haben wir uns heute Abend versammelt, um eine neue Hüterin willkommen zu heißen!", sprach Yilva mit ruhiger, bestimmter Stimme.

„Erinna Spencer, Tochter von Ruby Spencer, bist du gewillt deine Pflicht als Hüterin anzutreten?"

Ich beobachtete Erinna, wie sie angespannt mit dem Rücken zu mir im Wasser stand und das Zittern unterdrückte, welches ihren Körper heimsuchte. Und trotzdem schaffte sie es mit ruhiger, fester Stimme zu antworten, sodass man ihr nicht anhörte, wie angespannt und durchgefroren sie eigentlich war.

„Ich bin bereit, um meine Pflicht als Hüterin zu erfüllen!", sagte sie und ein leichtes Lächeln umspielte Yilva's Lippen.

„Versprichst du Lavandia und deren Bewohner zu beschützen und ihnen zu helfen? Ihnen zur Seite zu stehen und ihnen zu dienen, egal zu welchem Preis?"

„Ich verspreche es!"

Ihre Worte waren fest und sie sprach sie aus, ohne zu zögern. Ich fragte mich unweigerlich, ob ihr bewusst war, was genau sie da versprach.

Sie verschrieb sie vollends dem Reich und seinen Bewohnern. Ich hatte es damals nicht verstanden, so aufgeregt und jung war ich. Aber nun wusste ich, was es bedeutete.

Es bedeutete Avaglade niemals für einen längeren Zeitraum zu verlassen. Hier zu bleiben und Lavandia zu schützen. Es bedeutete, im schlimmsten Fall sein Leben zu lassen, wenn es das Reich und seine Bewohner rettete.

„Wirst du den Völkern Lavandias mit Respekt entgegentreten, ihre Sitten und Bräuche akzeptieren?"

„Das werde ich", sagte Erinna und ich sah kurz nach links und rechts. Keiner der Anwesenden verzog das Gesicht, aber ich wusste auch so, dass sie ihr glaubten. Und es gab auch keinen Grund, dies nicht zu tun.

Avaglade - Die Hüter von Lavandia (Buch 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt