Die Nacht hatte ihren Zenit lange schon überschritten. Erste Risse brachen durch die Dunkelheit, wie Vorboten des nahenden Morgens. Und doch, so schien es, wollte Myrne aus seinem Schlaf nicht erwachen. Dichter Nebel lag zwischen den Straßen. Wie eine Decke aus samtenem Rauch umschlang er die Gebäude der Stadt, ein Meer aus waberndem Dunst, das alles zu verschlucken drohte. Nur die höchsten Türme ragten aus dem Nebel empor und reckten ihre Spitzen mit letzter Kraft gen Himmel wie Ertrinkende auf der See.
Der Anbruch des neuen Tages konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen, als eine Katze, ein schönes Tier mit eichenbraunem Fell, leise über eine Mauer schlich. Die Undurchdringlichkeit des Nebels nahm ihr die Sicht. Deshalb verließ sie sich, wie die meisten ihrer Art, auf ihre guten Ohren. Spitz standen sie nach oben und lauschten, als plötzlich ein Geräusch zu hören war. Die Schnurrhaare der Katze zuckten vor Erregung. Es war nur ein schwaches Zischen, kaum mehr als das Flüstern des Windes, der schneidend über die Dächer zog. Doch der Wind war es nicht, wusste die Katze. Der Wind war stetig. Er war der Herr dieser Lande und seine Stimme ihr wohl bekannt. Was aber dann hatte das Zischen verursacht? Leise kauernd schlich die Katze näher heran. Sie reckte ihren Kopf über die Mauer und späte in die Tiefe, aus der das Geräusch gekommen war. Zwei Gestalten, schemenhafte Umrisse im Dunst, verbargen sich dort. Sie hielten sich hinter einem Baum versteckt und sprachen flüsternd über Dinge, die die Katze nicht verstand. Ihre kleine Nase schnupperte im Wind und erfasste jedes Detail. Sie roch Schweiß, süßlich und herb, sie roch eine wachsende Nervosität und angespannte Erregung. Und sie roch ... Freude? Ihr buschiger Schwanz schlang sich um ihre kleinen braunen Pfoten, die sich fest in den Stein der Mauer krallten. Was planten diese schemenhaften Gestalten, fragte sich die Katze. Was hatten sie bloß vor?
„Und du bist dir sicher?", flüsterte eine Stimme im Nebel.
„Hörst du es denn nicht?", sagte die Zweite.
„Was soll ich hören?"
„Nichts! Hier ist niemand mehr. So, wie ich es dir versprochen habe."
„Aber wieso?"
„Hast du mir vorhin nicht zugehört?"
„Doch, das habe ich." Ein unterdrücktes Schnaufen hatte sich in die Stimme geschlichen. „Du hast von irgendwelchen Reitern erzählt, die mitten in der Nacht vor den Stadttoren standen. Es kam zu einem Tumult und jemand hat geschrien. Das Übliche eben. Die Frage ist, wieso sind wir jetzt hier?"
„Du hast mir also nicht zugehört", gab die zweite Stimme zurück. „Das war nicht bloß Irgendwer. Heute Nacht kamen wichtige Leute an."
„So so. Und wie kommst du darauf?"
„Na weil man die Tore für sie geöffnet hat! Du kennst doch die Vorschriften. Nach Sonnenuntergang verlässt niemand die Stadt."
„Und niemand kommt hinein", fügte die zweite Stimme hinzu.
„Genau!"
„Und du sagst, sie haben die Tore dennoch geöffnet? Das ist sehr ungewöhnlich. Wer waren die Reiter?"
„Das weiß ich nicht. Aber sie haben für ziemlich viel Aufsehen gesorgt. Als man sie schließlich hereinließ, standen bereits Dutzende Menschen auf den Straßen und wollten wissen was los ist. Du kennst das neugierige Pack. Wenn irgendetwas Interessantes passiert, sind sie nicht mehr zu halten. Als würde man einer Schaar Mäuse Speck vor die Nase werfen."
„Ach?" Eine Pause entstand. „Ist sowas schon Mal passiert?"
„Nicht, solange ich mich erinnern kann."
„Und wieso dann heute? Wieso sollte die Wache plötzlich die Regeln brechen? Das klingt alles sehr seltsam."
„Wer weiß schon was geschehen ist. Vielleicht wurden die Reiter auf ihrem Weg aufgehalten und haben es nicht rechtzeitig geschafft. In den Wäldern soll es nicht sicher sein. In den letzten Wochen hat es einige Überfälle gegeben. Habe ich jedenfalls gehört."
„Mag ja sein, aber das meinte ich nicht. An den Toren führen sie genauestens Buch darüber, wer die Stadt betritt und wer sie verlässt. Schon Tage bevor ein Händler ankommt, wissen sie über ihn Bescheid. Sie sind über sein Kommen informiert, verstehst du? Wenn diese Leute aber so wichtig sind, wieso wussten die Wachen dann nichts von ihrem Kommen? Wieso der ganze Aufstand, bis man sie hineinlässt?"
„Na vielleicht haben sie es vergessen. Die Hellsten sind sie ja nicht gerade."
„Möglich. Aber so recht kann ich das nicht glauben."
Ein Stöhnen war zu hören. „Das du aus Allem eine Wissenschaft machen musst. Worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Wer auch immer das war, die Menschen sind ihnen gefolgt wie Motten dem Licht und mit ihnen ein Großteil der Wachen. Tavis, die Straßen sind frei und das wird vermutlich auch eine Weile so bleiben. Also dachte ich mir, das wäre eine verdammt gute Gelegenheit!"
Tavis war ein Dieb. Er war gerade sechzehn Jahre alt und lebte in Myrne, seit er denken konnte. Seine langen rostschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er Gesa argwöhnisch betrachtete. Ihr unschuldiger Blick missfiel ihm. Sie nutzte ihn eindeutig zu oft, was ihn misstrauisch machte. „Und sonst weißt du wirklich nichts über die Reiter?", fragte er mit hochgezogener Augenbraue.
Gesa war ein wenig jünger als er. Sie selbst schätzte sich auf dreizehn oder vierzehn. Tavis dagegen tippte auf fünfzehn. Sie wussten es nicht genau. Aber im Grunde spielte das keine Rolle. Menschen wie sie gab es viele in Myrne. Menschen, die weder wussten, wann, noch wo sie geboren waren oder wo sie eigentlich hingehörten.
„Naja, eine Sache gäbe es da noch", gab Gesa schließlich zu. Während sie sprach, spähte sie hinter dem großen Baum hervor, als prüfe sie die Umgebung. „Einige der Reiter sollen Roben getragen haben."
„Ist das wahr? Roben? Du meinst doch nicht etwa ..."
„Doch Tavis, genau die meine ich. Es heißt, es waren auch Magier unter ihnen." Gesas Augen blickten ihn verschwörerisch an, in der Hoffnung nun endlich sein Interesse geweckt zu haben. Nur das letzte Wort, Magier, war ihr nicht so leicht über die Lippen gekommen, wie sie beabsichtigt hatte.
Tavis' Herz klopfte. Er drängte Gesa mehr zu erzählen und überhörte den bitteren Klang in ihrer Stimme. Als er eine weitere Frage stellte, schlüpfte das Mädchen aus ihrem Versteck und überquerte, flink wie ein Reh auf der Flucht, die Straße. In Sekunden hatte der Nebel ihre Konturen verschluckt, als sei sie ein Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolzen war.
„He, warte", rief Tavis ihr nach. Doch sie war bereits verschwunden. Das ist mal wieder typisch, dachte er und folgte dem Mädchen so leise er konnte. Er suchte nach einem verräterischen Geräusch, einem Scharren auf dem Boden oder einem leisen Atmen. Aber da war nichts.
„Gesa", rief er in den Nebel hinein. „Wo steckst du?" Er presste sich mit dem Rücken gegen eine Mauer und spähte in alle Richtungen. Der wabernde Dunst machte es fast unmöglich etwas zu erkennen. Feuchtigkeit sammelte sich auf seinen Kleidern. „Gesa!"
„Pssst. Sei doch nicht so laut", sagte eine Stimme neben ihm. Hellbraunes Haar schimmerte im fahlen Mondlicht.
„Wo warst du?"
„Hast du dir etwa Sorgen gemacht?" Sie grinste. „Komm. Es ist nicht mehr weit."
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Tavis Quint - Der Zauberdieb
FantasyTavis ist ein Dieb. Mit seiner Freundin Gesa streift er durch die Straßen von Myrne, immer auf der Suche nach der nächsten guten Gelegenheit. Doch die beiden verbindet mehr als das. Vom Schicksal zusammengeschweißt träumen sie von einem besseren Leb...