„Tavis? Tavis! Steh schon auf verdammt, wir müssen hier weg!" Gesa rüttelte an seinen Schultern. Dunkler Rauch stieg hinter ihr auf. „Verflucht noch mal. Wenn wir nicht gleich verschwinden, war's das."
„Was ... was ist passiert?" Er öffnete die Augen.
„Du bist von der Mauer geschleudert worden. Tavis, wir müssen weg. Uns bleibt keine Zeit mehr!"
Noch immer etwas benommen, blickte er in den Himmel. Es dauerte einen Moment, bis seine Erinnerung zurückkam. Sein Kopf dröhnte. Und dann, nur einen Atemzug später, sah er alles ganz genau. Vor seinem inneren Auge erschien die Köchin, die auf ihn zugestürmt war. Er sah die Wachen, die verrenkt auf dem Boden lagen. Und er sah Mock. Verfluchter Scheißkerl. Ich hätte ihn niederschlagen sollen, als ich die Chance dazu hatte. Mühsam drehte er sich auf den Bauch und stemmte sich hoch. Er hatte sich fast aufgerichtet, als ein stechender Schmerz durch seinen Körper jagte.
„Was ist los? Bist du verletzt?"
„Ich weiß nicht", stöhnte Tavis und ging in die Knie. „Meine Rippen, irgendwas stimmt nicht."
„Warte, lass mich dir helfen." Gesa schob sich unter seine Schulter und stützte ihn.
Erneut wurde er von Schmerz geschüttelt. Doch diesmal schaffte er es aufzustehen. Er sog scharf die Luft ein, biss die Zähne zusammen, und lief los.
Trotz aller Schwierigkeiten schafften sie es schnell Abstand zwischen sich und das Haus zu bringen. Sie kämpften sich durch dichtes Gestrüpp, durchquerten einen Park und gelangten auf eine schmale Straße, die sie weiter nach Osten führte. Inzwischen waren einige Menschen unterwegs. Sie gingen ihren Aufgaben nach, transportierten Waren für Händler oder eilten in die Werkstätten, in denen sie Arbeit gefunden hatten, und würdigten sie keines zweiten Blickes, wenn überhaupt. Nur gelegentlich bemerkte Gesa, wie ihnen ein Augenpaar folgte. Missbilligung lag darin, manchmal sogar Verachtung. Mit ihren abgetragenen Kleidern, die nun auch voller Dreck waren, passten sie einfach nicht hier her.
Ach sollen sie doch zur Hölle fahren. Es spielte keine Rolle, was die Menschen dachten. Solange ihnen niemand folgte oder ihnen die Wachen auf den Hals hetzte, war alles gut. Sie mussten einfach weitergehen, raus aus diesem Teil der Stadt und zurück in die Schatten der engen Gassen, die sie ihr Zuhause nannten. Sie mussten zurück nach Krähennest.
Es dauerte fast eine Stunde, bis sie ihr Ziel erreichten. Tavis' Zustand hatte sich verschlechtert, weshalb sie nur langsam vorangekommen waren. Doch endlich hatten sie es geschafft. Vor ihnen ragten zwei Gebäude auf, große Häuser aus hässlichem, grauen Schieferstein, von denen eines sich gefährlich zur Seite neigte, als versuchte es, sich an das andere anzulehnen. Gesa steuerte direkt auf sie zu. Ihre Augen spähten nach dem schmalen Durchgang, der sich zwischen ihnen befand. Jene, die nicht wussten, dass er da war, konnten ihn leicht übersehen. Denn er wirkte nur wie ein Spalt, in dem nichts als Dunkelheit zu finden war. Für alle anderen jedoch, die von seiner Existenz wussten, war es der Eingang zu Krähennest.
„Wir haben es fasst geschafft", flüsterte Gesa. „Nur noch ein kleines Stück."
Außer einem Murren, gab Tavis keine Antwort. Er zwängte sich in den Spalt und verschwand in der Dunkelheit. Argwöhnisch folgte sie ihm. Sorge lag in ihrem Blick. Es war ungewöhnlich für ihn, dass er so schweigsam war, zumindest ihr gegenüber. Doch darüber würde sie sich später den Kopf zerbrechen. Das Einzige, was jetzt zählte, war, dass sie ihre Hütte erreichten. Doch dafür mussten sie vorsichtig sein.
Krähennest war kein schöner Ort. Seine Straßen, wenn man sie überhaupt so bezeichnen konnte, waren eng und schlammig, während die Häuser eher Hütten glichen, die sich dicht an dicht reihten. Und dann war da noch der Gestank. Wo es nicht nach nassem Hund roch oder nach schalem Alkohol, lag der Geruch von Ausscheidungen in der Luft, über deren Herkunft man lieber nichts wissen wollte. Und so, wie der Ort selbst, waren auch die Menschen, die hier lebten. Die meisten von ihnen waren Bettler oder Tagelöhner, die sich ein anderes Leben nicht leisten konnten. Doch neben diesen harmlosen Gestalten, gab es auch den typischen kriminellen Abschaum, um den man besser einen Bogen machte. Oft in kleinen Banden organisiert, streiften sie vor allem nachts durch die engen Gassen. Dann raubten sie, was sich zu stehlen lohnte, prügelten einem die Scheiße aus dem Leib oder taten Dinge, über die Gesa nur ungern nachdachte. Und obwohl dieses Gesindel zum Niederträchtigsten gehörte, was Myrne zu bieten hatte, waren sie nicht mal das Schlimmste an diesem Ort.
Wenn es eine Sache gab, die Krähennest wirklich gefährlich machte, dann waren es die Ghule. Ein halbes Jahr war es jetzt her, als die ersten von ihnen aufgetaucht waren und verwirrt durch die dunklen Winkel von Krähennest irrten. Anfangs schienen sie harmlos. Wie altersschwache Greise schlichen sie durch die Gassen und suchten nach etwas, das sie Wolfszahn nannten. Es war eine Droge, wie Gesa später herausfand. Doch obwohl kaum etwas darüber bekannt war, wuchs ihre Zahl stetig an. Mittlerweile mussten es Dutzende sein, vermutete sie, vielleicht sogar über Hundert. Und je mehr es wurden, desto größer wurden auch die Probleme, die sie machten.
Eines der wenigen Dinge, die Gesa herausgefunden hatte, war, dass sich die Körper der Ghule mit der Zeit veränderten. Anfangs fielen diese Veränderungen kaum auf. Es waren lediglich feine Risse, die sich in ihrer Haut bildeten, ähnlich den liebevollen Kratzern einer Hauskatze. Nach einer Weile jedoch wurde es schlimmer. Innerhalb von Wochen konnte es geschehen, dass ihre Haut an manchen Stellen aufbrach und sich das schimmernd rote Fleisch zeigte, das sich darunter verbarg. Es war ein abscheulicher Anblick, bei dem Gesa jedes Mal eine Gänsehaut bekam. Noch merkwürdiger als die Verletzungen der Ghule, war jedoch ihr sonderbares Verhalten. Tagsüber sah man sie nur selten in den Gassen von Krähennest. Wie Kreaturen der Nacht verbargen sie sich im Schatten, wartend, dass die Dämmerung einsetzte. Und sobald die Sonne verschwunden war, wenn die Dunkelheit sich über Myrne legte, wagten sie sich hinaus. Dann waren sie am gefährlichsten.
Gesa schüttelte den Kopf und vertrieb die düsteren Gedanken. Hier und jetzt war nicht die rechte Zeit, um unaufmerksam zu sein. Sie schob sich, als sie den Spalt zwischen den Häusern auf der anderen Seite verließ, nach vorn und spähte um die Ecke.
„Alles ruhig", flüsterte sie und ging voran. Zu dieser Stunde war es unwahrscheinlich, dass sie jemanden begegneten, der ihnen gefährlich werden konnte. Aber ein wenig Vorsicht war nie verkehrt.
Sie hatten Glück. Die geheimen Pfade durch Krähennest waren eng und dunkel und für gewöhnlich kam man nicht mit trockenen Füßen durch sie hindurch. Doch sie schafften es ohne Aufsehen ihre Hütte zu erreichen. Eine gewaltige Anspannung, von der Gesa gar nicht gewusst hatte, dass sie auf ihr lastete, fiel in dem Moment ab, als sie das Schloss ihrer Tür geöffnet und hinter sich wieder verriegelt hatte.
Im Innern der Hütte war es dunkel. Schnell zündete sie eine Kerze an und half Tavis ins Bett. Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle, als er in die Knie ging, um sich hinzulegen. Er krallte sich dabei so fest an Gesas Arm, dass sie ihn beinahe losgelassen hätte. „Verflucht", zischte sie. Doch Tavis schien es nicht einmal bemerkt zu haben.
Als er schließlich auf der alten Matratze lag, sah sie, wie sich seine Gesichtszüge entspannten. Er atmete jetzt ruhiger als noch zuvor und schaffte es die Augen offen zu halten, ohne vor Schmerz zusammenzuzucken.
„Wie geht es dir?"
Sein Blick suchte den ihren. „Wie es mir geht? Ich wurde von einem verdammten Alm gejagt und durch die Luft geschleudert. Gleich darauf bekam ich es mit den Soldaten der Stadtwache zu tun. Staub und Asche, sogar die Köchin wollte mir an den Kragen. Und ich wurde verdammt noch mal von einer verfluchten Mauer gesprengt."
Gesa machte große Augen. Den letzten Teil hatte sie selbst erlebt, doch vom Rest hatte sie nichts gewusst. „Oh Tavis, wenn ich geahnt hätte ..."
„Ist schon gut", unterbrach er sie. „Ich kannte das Risiko. Es ist nicht deine Schuld." Oder zumindest nicht nur, überlegte er, behielt diesen Gedanken aber für sich.
Gesa zögerte einen Moment, dann fragte sie: „Und, wie war es? Was hast du gesehen?"
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Tavis Quint - Der Zauberdieb
FantasyTavis ist ein Dieb. Mit seiner Freundin Gesa streift er durch die Straßen von Myrne, immer auf der Suche nach der nächsten guten Gelegenheit. Doch die beiden verbindet mehr als das. Vom Schicksal zusammengeschweißt träumen sie von einem besseren Leb...