Nachdem Tavis wieder eingeschlafen war, verließ Gesa die Hütte und machte sich auf den Weg in die Oberstadt. Schnell ließ sie Krähennest hinter sich und betrat die Straßen von Erding.
Die Sonne stand hoch am Himmel. Warmes Licht fiel auf ihr Haar, das jetzt kupferbraun schimmerte und nur ein wenig dunkler war als die Sommersprossen auf ihrem Gesicht. Mittlerweile waren deutlich mehr Menschen unterwegs. Sie huschte flink zwischen ihnen hindurch und achtete darauf, unauffällig zu bleiben. Für Gesa war es ein Spiel. Wenn sie sich klein machte und auf den Boden schaute, war sie nur ein unscheinbares Mädchen, dem man kaum Beachtung schenkte. Und wenn ihr doch mal jemand einen Blick zuwarf, konnte sie so schnell verschwinden, wie eine Maus im Unterholz.
In Erding war es anders als in Krähennest. Die Straßen waren breit und hell, die Häuser gepflegt und an vielen Ecken fand man Bernsteinbäume, deren Blätter leise raschelten, wenn man unter ihnen durchging. Sie mochte diesen Teil von Myrne. Deshalb kam sie, immer, wenn sie hier war, nur langsam voran. Mit gemächlichen Schritten stieg sie einen Weg hinauf, der sie an einigen Läden vorbeiführte. Die meisten davon interessierten sie nicht. Hier konnte man Mehl kaufen, Korn oder Gewürze. In anderen fand man Werkzeuge und wieder andere boten Möbel an oder langweilige Dinge wie Töpfe und Pfannen. Ein Laden jedoch erregte ihre Aufmerksamkeit. Ceciels Tücher und Gewänder war über der Tür zu lesen, vor der Gesa schon oft gestanden hatte. Zu gern wäre sie hineingegangen, um in eines der Kleider zu schlüpfen, die Ceciel angefertigt hatte. Doch man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, was dann passieren würde. Aus diesem Grund tat sie, was ihres Standes würdig war. Sie presste ihr Gesicht an die Scheibe und stellte es sich einfach vor.
„Irgendwann gehört ihr alle mir", flüsterte sie. „Irgendwann, ihr werdet schon sehen." Am schönsten fand Gesa das Kleid in der Mitte. Der Stoff wirkte samtweich und leuchtete in einem tiefem Herbstrot, während um den Bauch ein Gürtel aus glänzender Bronze lag. Die einzelnen Elemente, fein gearbeitete Blättchen, die durch Kordeln verbunden waren, zeigten filigrane Muster.
„Was machst du da?", fauchte eine Stimme und riss Gesa aus ihren Gedanken. „Verschwinde von meinem Fenster, dummes Gör."
Erschrocken wich das Mädchen zurück. Sie stolperte fast über ihre eigenen Füße, als eine Frau, hochgewachsen und dunkelhaarig, sich drohend vor ihr aufbaute. „Schau, was du gemacht hast", sagte sie und zeigte auf das Glas. „Die ganze Scheibe ist dreckig wegen dir. Und wer wird es saubermachen? Du etwa?"
Gesa wollte etwas erwidern. Doch die Frau redete weiter, als interessierte es sie nicht, was das Mädchen zu sagen hatte.
„Nein, natürlich bleibt das an mir hängen. Als hätte ich nicht schon genug Ärger. Und jetzt mach, dass du wegkommst. Geh und gesell dich zu Deinesgleichen."
„Aber ich ..."
„Nichts da. Du vergraulst mir die Kundschaft. Sieh dich doch nur an in deinen schmutzigen Lumpen." Sie kam einen Schritt näher. „Ginge es nach mir, würde die Stadtwache euch alle nach Shada Morgath bringen." Die Frau zischte die letzten Worte, spie sie fast aus, als wollte sie jeden Funken Verachtung hineinlegen, den sie aufbieten konnte. „Und jetzt verschwinde endlich!"
Gesa riss die Augen auf, als hatte man ihr eine Ohrfeige verpasst. Ein Schatten von Angst huschte über ihr Gesicht, den sie nur mit Mühe unterdrücken konnte. „Ihr seid ...", flüsterte sie, biss sich jedoch im letzten Moment auf die Zunge. Plötzlich kamen ihr tausend Flüche in den Sinn. Tausend Flüche und noch mehr, die aus ihr herausbrechen wollten, wie ein wütender Schwarm Hornissen. Menschen blieben stehen und drehten sich zu ihr um. Ihre argwöhnischen Blicke schienen zu fragen, ob das schmutzige Mädchen gefährlich war. Sie glitten über sie hinweg, als betrachteten sie etwas, das nicht sein durfte. Nicht hier. Nicht in diesem Teil der Stadt. Und dann fiel es ihr wieder ein. Die Maus droht der Katze nicht. So wütend sie auch war, schlug sie ihre Augen sofort nieder, als suchte sie etwas, das sich auf dem Boden befand. Die Maus dreht sich um und verschwindet so schnell sie kann.
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Tavis Quint - Der Zauberdieb
FantasyTavis ist ein Dieb. Mit seiner Freundin Gesa streift er durch die Straßen von Myrne, immer auf der Suche nach der nächsten guten Gelegenheit. Doch die beiden verbindet mehr als das. Vom Schicksal zusammengeschweißt träumen sie von einem besseren Leb...