„Was ich damit sagen will, ist Folgendes", erklärte Severin. „Ihr verlasst euch zu sehr auf euer Können mit der Klinge. Um einen echten Kampf zu gewinnen, braucht es jedoch mehr als nur Geschick. Ein erfahrener Kämpfer nutzt nicht bloß seine Waffe, sondern auch seinen Kopf." Er tippte sich gegen die Stirn. „Er beobachtet und versteht es die Umgebung in sein Handeln einzubinden, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Aber viel wichtiger noch, er ist in der Lage die Stärken und Schwächen seiner Gegner zu erkennen. Vor ein paar Jahren", erzählte er und schaute Alara durchdringend an, „bekam ich es mit einer Räuberbande zu tun. Es war am Ende der Sommerzeit. Ich ritt mit ein paar Händlern nach Yebin, einer Stadt nahe der großen Wüste. Es war eine angenehme Reise und wir rechneten nicht mit Problemen, da die Straße als sicher galt. Doch das war ein Irrtum, wie sich später herausstellen sollte. Denn eines nachts wurden wir überfallen." Severin nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. Sein Blick schien für einen Moment ins Leere zu gehen, als überlegte er, welche Worte er als nächstes wählen sollte. „Es war das reinste Chaos. Ich erwachte von den Schreien meiner Gefährten. Ich hörte wie Pferde wieherten und in Panik ausbrachen. Doch in der Dunkelheit erkannte ich nur schwarze Schemen. Das Einzige, was ich in diesem Moment sehr deutlich wahrnahm, war das Schwert, das direkt auf meinen Kopf zielte. Irgendwie schaffte ich es auf die Beine zu kommen und der Klinge auszuweichen. Doch nur, um jetzt dem Mann gegenüberzustehen, der sie in seinen Händen hielt. Trotz der Schwärze der Nacht glaubte ich die Mordlust in seinen Augen zu erkennen. Er ging auf mich los und mir blieb nichts anderes übrig als zu fliehen."
„Ihr seid davongelaufen?", sagte Alara überrascht.
„Das bin ich. Es war das Einzige, was mir in diesem Moment vernünftig erschien. Nicht, dass ich viel darüber nachgedacht hätte. In einer solchen Situation denkt man nicht, man handelt einfach."
„Dann habt ihr eure Gefährten im Stich gelassen."
„Selbstverständlich nicht. Ich lief durch die Dunkelheit und lockte ihn vom Geschehen fort. Am Abend zuvor hatte ich mich in der Gegend ein wenig umgeschaut. Daher wusste ich, dass es in der Nähe einen kleinen Bach gab. Ich erinnerte mich, wo er passierbar war und sprang hinüber. Mein Angreifer folgte mir. Er stapfte durch das hohe Gras, als gehörte ihm dieses Land. Und kaum einen Moment später fiel er. Er stürzte ins Wasser, was mir Gelegenheit gab zu reagieren."
„Ihr seid ins Lager zurückgekehrt?"
„Nein. Meine Augen hatten sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Und so sah ich die Konturen seines Körpers, sah wie er versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Und ich sah ein Messer, das lose an seinem Gürtel hing. Ich sprang ebenfalls in den Bach und landete auf seinem Rücken. Mein Gewicht drückte ihn unter Wasser, was ihn für einen Moment in Panik versetzte. Ich nutzte diesen Moment, entriss ihm die Klinge und rammte sie ihm in den Hals."
Alaras Augen weiteten sich. „Ihr habt ihn getötet", sagte sie leise.
„Es musste sein, aber ja."
Sie atmete hörbar aus, nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Dann fand sie ihre Stimme wieder. „Ich weiß nicht, ob ich so etwas tun könnte. Ich ... ich möchte all das nicht lernen, um irgendwen umzubringen, versteht ihr? Ich will mit meinem Schwert keine Kehlen aufschlitzen. Darin liegt keine Ehre."
„So seht ihr das?"
„Ja", war Alaras knappe Antwort. „So sehe ich das."
Severin lächelte bitter. „Dann hoffe ich für euch, dass ihr nie in einen echten Kampf geratet. Denn eure Feinde werden nicht so viel Ehrgefühl besitzen wie ihr."
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Tavis Quint - Der Zauberdieb
FantasyTavis ist ein Dieb. Mit seiner Freundin Gesa streift er durch die Straßen von Myrne, immer auf der Suche nach der nächsten guten Gelegenheit. Doch die beiden verbindet mehr als das. Vom Schicksal zusammengeschweißt träumen sie von einem besseren Leb...