Es lebte einst eine alte Frau. Und wenn ich sage alt, dann meine ich auch alt. Sie hatte jeden Sturm durchgemacht, hatte Schmerzen davon getragen und doch hatte sie überlebt. Es schien so, als ob ihr Leben kein Ende nehmen würde.
Sie sass oft am Fenster und beobachtete die Leute. Sie beobachtete die Kinder, die im Sonnenlicht miteinander spielten, oder die Teenager, die mit lauter Musik durch die Gassen liefen. Die Frau tat nichts anderes.
Zwei Mal am Tag stand sie auf, um sich etwas zum Essen zu holen. Man nannte sie überall nur die alte Griesgrämige.
Manche würden denken, es wäre doch schön, so viel Zeit zu haben und sie solle doch etwas sinnvolleres machen, als die ganze Zeit nur auf die Strasse zu starren. Doch es gab nichts, was die Frau lieber hätte tun wollen.
Die Leute hielten sie für verrückt und hatten Angst vor ihr. Sie hielten die Kinder von ihr fern, wenn sie sahen, wie die Frau einmal mehr aus ihrem Fenster starrte. Sie sagten den Nachbarn, sie sollten doch ihren Spaziergang gegen diese Seite machen, in der anderen Richtung wohne eine alte Frau, die nicht ganz richtig im Kopf sei. Deshalb kamen immer weniger Leute in die Nähe von ihr und sie starrte oft einfach auf die leere Strasse. Sie war alleine in dieser kalten Welt.
Das einzig Schöne, das die Frau noch kannte, war Weihnachten. Zwar war sie auch da einsam, doch es gab etwas, das der Grund war, weshalb sie überhaupt noch lebte. Es war eine Tradition, die die alte Frau in all den Jahren, unter allen Umständen, aufrecht erhalten hatte.
Sie hatte ihre zwölf Kerzen, die sie anzündete und einen Kreis daraus bildete. Dann setzte sie sich in die Mitte der Kerzen und lauschte. Sie hörte der Stille zu. Das war etwas, das ihr half, den Alltag zu überstehen. Nach diesem Glücksmoment kehrte die Frau zurück auf ihren alten, in die Jahre gekommenen Sessel und lebte dort weiter.
Es wäre schön, wenn sich die geldgierigen, egoistischen Leute, die überall Klatsch und Tratsch verbreiteten, überlegen würden, was die Frau war. Was ihre Hintergedanken waren.
Die Leute wussten nicht, dass die Frau den ersten und zweiten Weltkrieg miterlebt hatte und dabei alles verloren hatte. Sie wussten nicht, dass sie ihre Kindheit in Obhut einer aggressiven Stiefmutter verbracht hatte. Sie wussten weder, dass sie mit zehn Jahren Opfer einer Entführung wurde, noch dass sie alle ihre Männer nach spätestens einem Jahr Beziehung verloren hatte. Sie hatten keine Ahnung davon, dass die alte Frau ihr Leben lang versucht hatte, an Geld zu kommen, und kläglich daran gescheitert war.
Niemand wusste, wer die Frau wirklich war. Keiner hatte Ahnung, dass ihr Körper nur noch eine Hülle von ihr selbst war. Ihr wirkliches Ich hatte schon vor Jahren ihren Körper verlassen und war fortgegangen. Fortgegangen in eine andere Welt. Weg aus diesem Leben voller Trauer und Einsamkeit.