Die Agor

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Die beiden waren jetzt schon eine ganze Weile unterwegs. Mittlerweile war es schon wieder Abend geworden und der Himmel hatte sich hellrosa gefärbt. Amira hatten den Sonnenuntergang immer geliebt, weshalb sie jetzt mal wieder gedankenverloren Richtung Himmel schaute. In ihrer Zeit auf der Straße war der Himmel und die Sterne das einzige, was immer da war. Egal wie düster ihr leben auch war, nie hatte der Himmel ihr diesen schönen Anblick verwehrt. Wer weiß? Vielleicht war so ein Sonnenuntergang ja auch was besonderes im Reich der Engel. Die junge Diebin hätte Castile gerne gefragt, doch sie musste ja nicht gleich wirken, wie ein dummes neugieriges Kind, also schwieg sie.

Nach einer weiteren halben Stunde erhob der Engel plötzlich doch seine Stimme. "Wir sollten uns einen Schlafplatz suchen. Da vorne sollte es eine Höhle geben, dort können wir schlafen. In der Nähe ist auch ein Fluss, falls du kleines Menschlein schon wieder was zu trinken brauchst" schlug er vor. Der letzte Satz war natürlich mal wieder voller Spott, doch Amira ignorierte das gekonnt. Sollte er sich doch über sie lustig machen, sie beide wussten, dass die Diebin alles andere als schwach war.

"Einer von uns muss Wache halten" erwiderte Amira mit einem kritischen Seitenblick zu dem gefallenen Engel. Er war wirklich groß. In Menschlichen Maßen gesehen, war er sicher um die 1.85, was durchaus eine beeindruckende Größe war. Auch seine Schultern waren recht breit, was darauf schließen ließ, dass er sicher sehr muskulös war. Nicht, dass das Amira irgendwie interessierte.

"Ich mache das" erwiderte Castile brummend und blickte nicht mal zu ihr hoch. Er lief einfach nur weiter auf die Höhle zu, die sich in einem kleineren Berg in der Nähe abzeichnete. Er schien konzentriert zu sein, doch warum? Was lauerte hier, dass es einen Engel so in Alarmbereitschaft versetzte? Amira war nie weit außerhalb von Zinambra gewesen, doch eigentlich gab es hier nichts, von dem sie nicht wusste. In dieser Welt gab es keine magischen Wesen und gefährlichen Bestien. Zumindest glaubte sie das.

"Gibt es hier irgendetwas, dass uns gefährlich werden konnte? Ich meine außer Wölfen und Wildschweinen" fragte sie skeptisch und ließ ihren Blick über die Landschaft gleiten. Grüne Wiesen, friedliche Wälder und hohe Bergen. Idyllisch. Wäre da nicht dieses Gefühl von Anspannung in ihrem Magen, die sie dazu brachte aufmerksam zu sein.

Castile blickte nun endlich zu ihr hoch. Kurz musterte er sie, fragte sich wohl, ob er ihr das wirklich sagen sollte. "Du warst noch nie außerhalb deiner kleinen Stadt hm? Es ist leichter es dir zu zeigen. Heute Nacht, wirst du es sehen. Bei Tag schlafen sie, doch jetzt sollten sie langsam erwachen, also müssen wir uns etwas beeilen" erklärte er ihr knapp. Sie? Wer sind Sie? Und warum erwachten sie erst in der Nacht? Vor Menschen hatte sie keine Angst, auch nicht vor Wölfen oder anderen Tieren, doch er schien Kreaturen zu kennen... sie bekam eine leichte Gänsehaut, als sie Thalia sanft in die Flanken trat, damit sie schneller wurde.

Nach einer Viertelstunde waren sie endlich am Fuß des Berges angekommen. Dort sah man einen Weg, der hoch in die Berge führte. Amira stieg ab und führte Thalia den Weg hoch, bis sie mit Castile an einer kleinen Höhle ankamen. Sie war kühl und dunkel aber schien sicher zu sein. Die beiden waren jetzt ungefähr 20 Meter in der Höhe und konnten auf die weite Landschaft sehen. Gott war das schön. Gerade stand der Sonnenuntergang in den letzten Zügen und sie versuchte nicht auf dieses wunderschöne Bild zu starren. Er sollte nicht sehen, wie leicht sie zu beeindrucken war. Wie einfach man ihr kaltes Herz doch erwärmen konnte, mit etwas so simplen.

"Bind sie drinnen an. Ich mache ein Lagerfeuer. Sie sollten bald draußen sein, dann kannst du sie sehen." meinte Castile und drehte sich zu ihr. Im Sonnenuntergang sah er noch mystischer aus. Er hatte etwas magisches. Er leuchtete förmlich in dem goldenen Licht der untergehenden Sonne. Es war ein dunkles Funkeln, dass in ihr eine Ehrfurcht und gleichzeitig eine Neugier wecken würde. Er war zweifelsohne etwas besonderes.

Die junge Diebin musterte ihn noch einen kurzen Augenblick. Dann tat sie, was er sagte und band Thalia in der Höhle an einem kleinen Felsvorsprung an und drehte sich zu einem Platz in der Höhle, der gut schien, für ihren Schlafplatz. Es war kalt und sie hatten keine Decken. Amira war zwar daran gewöhnt draußen zu schlafen, doch es war trotzdem keine Freude. Zuhause, in Zinambra, hatte sie wenigstens ein warmes Bett und ein Dach über dem Kopf, auch wenn es nur eine kleine ein-Zimmer-Wohnung war.

Amira wusste nicht wie, doch irgendwie hatte es der gefallene Engel doch tatsächlich geschafft ein Lagerfeuer zu machen. Es sorgte sofort für einen kleinen Hauch von Wärme und erleuchtete die düstere Höhle. Nun konnte sie endlich die ganze Höhle erkennen. Sie war doch etwas größer als die blonde vermutet hatte. Der Eingangsbereich war nicht sonderlich groß. Höchstens 5-6 Meter breit und etwa 2 Meter hoch. Doch die Höhle ging scheinbar tiefer in den Berg hinein. Sicher 10 Meter. Aber warum wollte er dann hier vorne, nur einen Meter entfernt vom Eingang bleiben? Das war nicht nur viel kälter, sondern auch viel gefährlicher.

"Wäre es nicht sinnvoller nach hinten zu gehen?" fragte sie und dabei hob sich eine ihrer dunklen Augenbrauen etwas an. Das war ein Zeichen von Misstrauen, was auch Castile zu bemerken schien, denn er sah sie direkt an. Seine schwarzen Augen waren ruhig und schienen die Situation zu analysieren. Amira hatte recht und das wusste er ganz genau, doch er wollte es nicht zugeben. Natürlich. Er war ein eingebildeter Arsch, der dachte, dass ihm jeder unterlegen war. Kein Wunder, dass er gefallen war.

"Wieso? Wenn uns jemand angreift sind wir dort sofort in der Falle" antwortete er gelassen. Auch wenn er so tat, als wäre das selbstverständlich, hatte sie an seinem Blick sehen können, dass er fieberhaft nach einem guten Grund gesucht hatte. Ein guter Grund um ihr nicht Recht geben zu müssen. Die Blondine ließ sich davon jedoch nicht unterkriegen. Dies war nicht die erste Höhle und es brachte ihr gar nichts auf eine Gefahr vorbereitet zu sein, wenn sie ein Eisblock war.

"Ich schlafe trotzdem hinten. Du kannst ja hier vorne rumsitzen aber versuch nicht bereits nach zwei Stunden umgebracht zu werden ja? Ich brauch meinen Schönheitsschlaf Engelchen" meinte Amira mit einer provokant süßen Stimme. Gerade wollte sie in Richtung der hinteren Höhle gehen, da hallte auf einmal Castiles Stimme durch die kalte Höhle.

"Bleib hier. Gleich kommen sie. Sieh sie dir an, dann kannst du schlafen, wo auch immer du willst ti vòlè" befahl er mit seiner dunklen Stimme. Irgendwie hatte er etwas animalisches. Etwa dunkles, dass einen förmlich dazu einlud mit in die Dunkelheit zu kommen. Doch was die junge Diebin gerade viel mehr beschäftigte war der Spitzname. ti vòlè. Was bedeutete das? War das die Sprache des Himmels? Oder hatte er sich das gerade ausgedacht? Natürlich wollte sie ihm nicht die Genugtuung geben ihn zu fragen, also lief Amira einfach zurück zum Höhleneingang. Ihr Gang war selbstbewusst aber locker. Sie wirkte, als würde sie das alles eigentlich nicht interessieren, doch in Wahrheit tat es das. Sie war unfassbar aufgeregt, was gleich passieren würde.

Etwa 5 Minuten lang standen die beiden da. Schweigend und einfach nur in die Ferne schauend. Auch jetzt wollte Amira nicht fragen, also sah sie einfach weiterhin auf die dunkle Landschaft. Die letzten Sonnenstrahlen waren gerade hinter den Bergen verschwunden, da bemerkte sie plötzlich etwas. Es war ein Schatten, der sich über die Wiese bewegte. Anfangs war es nur ein langsames Schleichen, doch bald wurde die Kreatur schneller. Schneller, genau wie ihr Herz. Was war das? Doch dort war nicht nur eins von ihnen, nein, dort tauchten immer mehr auf. Ein Schatten nach dem anderen zeichnete sich auf der dunklen Wiese ab. Sie rannten. Liefen sie auf allen vieren? Oder doch auf mehr Beinen? War das Fell?

Und dann lichteten sich die Wolken plötzlich.

Dunkles Fell, scharfe Krallen und monströse Gebeine. Sie liefen auf allen vieren und wirkten wie eine Mischung aus Wölfen und anderen gefährlichen Kreaturen. Amira lief eine Gänsehaut über den Rücken und sie konnte sich kaum von dem Anblick lösen.

"Was... was sind sie?" hauchte sie leise und war noch immer gefesselt von den Kreaturen, die über die Wiesen sprinteten. Doch warum? Was taten sie?

"Die Aqor. Sie jagen" beantwortete er die eine Frage, die sie sich nicht getraut hatte auszusprechen. Sie jagten?

"Was jagen sie?" fragte Amira und bei seiner Antwort blieb ihr die Luft weg.

"Menschen"

A fallen angel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt