Zum tanzenden Bär

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Es war bereits Abend, als die beiden die großen Holztore der Hafenstadt erreichten. Eines war geöffnet und ein junger Mann stand am Durchgang. In seiner rechten Hand hielt er eine Laterne und neben ihm, an die Wand gelehnt, sah man eine Lanze, die längst nicht so neu war, wie der Rest der Stadt den Anschein machte. Die Stadtmauern waren hoch, dennoch wirkte die Stadt nicht geschlossen oder düster. Stattdessen machte sie einen fast einladenden und freundlichen Eindruck, der wohl dazu dienen sollte, die Hafenstadt attraktiver zu machen für Händler und andere Besucher.

"Name und Anliegen" brummte der junge Mann, der, wie die meisten Wachen, eine Rüstung trug. Er schien hier schon eine Weile zu stehen, denn Amira bemerkte, wie er hin und wieder sein Gewicht von einem auf den anderen Fuß zu verlagern schien. Wie das wohl hier war? Wie man hier als Wache so lebte? Wenn sie dem Stadtrat unterstellt waren, bedeutete das dann, dass die Männer, die hier alles kontrollierten, auch über sie bestimmten?

"Elain und Theodore" antwortete Castile ihm locker. "Wir besuchen meine Mutter. Sie ist krank und wir wollen sie einige Tage pflegen" fügte Amira wie selbstverständlich hinzu. Sie konnte es zwar nicht sehen, doch dem Engel zuckte ein stolzes Lächeln über die Lippen. Schon als Kind hatte sie gelernt, wie man lügt und dass man nun mal am besten kein Aufsehen erregt.

"Ihre Mutter pflegen?" meinte der junge Mann und musterte die beiden. Sie sahen definitiv nicht aus, wie zwei normale Menschen. "Ja, meine Mutter. Sie ist schwer krank und wir wollen uns um sie kümmern. Normalerweise arbeiten wir als Söldner, deshalb sieht sie mich nur selten" erklärte Amira ihm. Ob er das geschluckt hatte? Nun, sein kritischer Blick sagte etwas anderes, dennoch trat er zur Seite und ließ die beiden passieren.

Ohne lange zu zögern Schritten die beiden durch das Tor und dann erblickte Amira sie endlich. Die Innenstadt von Veniza. Die Straßen waren beleuchtet und einige Menschen liefen zu den Geschäften, um noch letzte Erledigungen zu machen. Es wirkte so... friedlich. Erstaunlich. Klar, Castile hatte ihr davon erzählt, doch so richtig hatte sie es nicht glauben können.

Der Engel schien ihren faszinierten Blick zu bemerken, denn plötzlich spürte Amira, wie er sich zu ihr hinunterbeugte. "Willkommen in Veniza kleines" hauchte er ihr ins Ohr mit einer angenehm sanften Stimme. Eigentlich hätte sie jetzt weggezuckt, doch sie rührte sich nicht. Die junge Diebin blieb einfach dort stehen. Castile dicht hinter ihr und den Blick auf die zauberhaften Straßen von Veniza gerichtet.

Wie lange die beiden dort so standen, wusste Amira nicht, doch es sorgte dafür, dass sie zumindest für eine kurze Zeit Ruhe fand. Es war beruhigend einmal nicht wegrennen zu müssen. Sich einmal nicht umdrehen zu müssen oder Angst zu haben, dass jemand einem vielleicht doch wieder etwas böses will. Ihr Kopf schaltete einfach ab und das tat gut.

"Na komm, hier gibt es eine gute Taverne. Dort kriegen wir sicher ein Zimmer" meinte Castile und trat einen Schritt zur Seite, was Amira aus ihrem Tagtraum riss. Schweigend nickte sie und folgte ihm durch die Hafenstadt. Etwa 5 Minuten lang durchstreiften sie die dunklen Straßen, bis sie endlich an einer Taverne ankamen. Über dem Eingang hin ein Schild mit der Aufschrift "Zum tanzenden Bär". Wie niedlich.

Knarrend öffnete Amira die Tür, welche ihr den Weg in einen gefüllten Raum offenbarte. Es war spärlich beleuchtet und sofort drehten sich einige Köpfe in die Richtung der beiden. Manche von ihnen waren vernarbt, andere wiederum schienen ganz normale Bürger dieser Stadt zu sein. Der Mann hinter dem Tresen nickte den beiden kurz zu, bevor er sich weiter mit einem Gast unterhielt.

"Hier riecht es nach Alkohol" brummte Amira leise und sah sich um. Scheinbar waren sie nicht die einzigen Söldner, denn einige der Männer die hier saßen, trugen Waffen und Dolche mit sich rum. Dabei war Veniza doch eine Handelsstadt? Wieso trieben sich hier dann Söldner und Auftragsmörder rum?

"Nun, es gibt genug Menschen in dieser Stadt, die zu gerne ihre Nächte mit etwas Spaß verbringen" antwortete Castile mit einem leichten Grinsen, bevor er kurz zu Amira hinunter sah. "Doch wir sollten lieber nicht zu viel Zeit hier unten verbringen, so weniger Leute uns erkennen, desto besser" murmelte er, als er Richtung Tresen ging.

"Haben sie noch ein freies Zimmer? Zwei Betten, wenn's geht" fragte er den kräftigeren Mann hinter dem Tresen. Er hatte einen Vollbart und war schätzungsweise etwa 45. Sein Gesicht war freundlich, dennoch sah man ihm an, dass er sicherlich schon viel erlebt hatte und wusste, wie man sich Respekt verschaffte. Es war offensichtlich, dass jeder hier ihn respektierte und auch Amira empfand so.

"Ein freies Zimmer ja, allerdings nur eins mit Doppelbett. Wegen des Lichterfests sind so gut wie alle Zimmer belegt, tut mir leid mein Herr" antwortete der Gastwirt mit ruhiger Stimme. Abwartend sah er Castile an, ob ihn diese Antwort zufriedenstellte oder nicht. Sicherlich hoffte er darauf, dass sie trotzdem das Zimmer nehmen würden.

Kurz sah Castile nach hinten zu Amira, bevor er dem Mann zunickte. "Wie viel? Wir wollen 4 Nächte bleiben" brummte er und holte einen kleinen Beutel aus einer Tasche. Der Mann musterte ihn kurz und schien zu überlegen, wie viel Geld er wohl verlangen könnte.

"200 Taler" forderte der bärtige Mann. 200 Taler waren durchaus ein stattlicher Preis, doch Castile war wohl auch bewusst, dass sie wohl kein anderes Zimmer in der Stadt finden würde, was günstiger war. Außerdem verspürten wohl beide den Wunsch danach sich nicht mehr den ganzen Tagen durch die Landschaft zu bewegen und auf der Hut zu sein vor Monstern. Ein warmes Bett. Ein sicherer Ort, an dem die beiden sich ausruhen konnten, bevor ihr Auftrag endlich begann.

Castile nickte und gab ihm die Taler. Nachdem das erledigt war, folgte Amira ihm nach oben über eine Holztreppe, zu einem langen Gang, der zu vielen Türen führte. Der Mann hatte ihnen gesagt 10B, was relativ weit hinten zu sein schien. Der Gang war dunkel und der Fußboden knarrte, als die beiden zu ihrem Zimmer liefen.

"Ganz schön düster" brummte Amira und bekam als Antwort nur ein dumpfes Lachen von dem Engel. Natürlich fand er das lustig. Immer schien er sich über sie zu amüsieren, wie wenig sie doch wusste und dass sie keine Ahnung von dieser Welt hatte. Blöder Engel.

„Jetzt müssen wir uns also ein Bett teilen..." begann Amira das Gespräch, als die beiden vor der Tür ihres Zimmers ankamen. „Keine Angst, dass ich dich im Schlaf umbringe?" fragte sie und konnte sich ein neckisches Grinsen nicht verkneifen. Damit versteckte sie wohl, dass ihr der Gedanke, dass die beiden zusammen in einem Bett schliefen etwas Angst machte. Ihr war natürlich klar, dass er ihr nichts tun würde, dennoch war das eine Situation, die sie nicht gewohnt war und mit der sie nicht so ganz umgehen konnte.

Castile stand hinter Amira und auf ihre Aussage hin, schwieg er einige Sekunden. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, jedoch spürte sie seinen Blick in ihrem Nacken. Es war nicht ungewöhnlich, dass die beiden sich neckten, doch der Engel schien ihr unbedingt zeigen zu wollen, dass er die Oberhand hatte.

Langsam beugte Castile sich zu ihr hinunter. Einen Arm hatte er über ihrem Kopf an die Tür gestützt und mittlerweile berührte seine Brust ihren Rücken. Das passierte immer öfter in letzter Zeit. Er kam ihr nah und schien... sie verlegen machen zu wollen. Doch wieso? Was brachte ihm das? Dominanz? Macht?

„Hast du denn vor mich heute Nacht umzubringen?" hauchte er ihr amüsiert ins Ohr, was bei ihr doch eine sanfte Gänsehaut auslöste. Was sollte sie darauf antworten? Er kam ihre Nahe und das überforderte sie so sehr, dass sie das Bedürfnis verspürte einfach aus dieser Situation rauszukommen. Sie wollte einfach weg von ihm, seinem heißen Atem und dem verführerischen Geflüster.    

„Wenn du mir weiterhin so nah kommst, dann ganz sicher" knurrte Amira, bevor sie den Türknauf drehte und in das kleine Zimmer trat. In der Mitte stand ein großes Doppelbett, welches mit nicht mehr ganz weißen Laken bedeckt war, daneben zwei Dicke Holzstämme, die gerade so bis zur Kante des Bettes reichten. Das Zimmer war spärlich beleuchtet und es gab auch nur ein Fenster, welches mit dunklen Vorhängen verdeckt wurde.

„Dann muss ich mich wohl in acht nehmen" gab der Engel zurück und schien doch etwas überrascht davon zu sein, dass Amira ihn so abwies. Die beiden waren zwar so etwas wie Verbündete geworden und sie vertraute ihm auch, dennoch war sie eben innerlich noch immer die eiskalte Diebin aus Zinambra. Ihre Vergangenheit hatte es ihr nie erlaubt Schwäche zu zeigen oder sich fallen zu lassen, also wieso sollte sie das nun tun? Wieso sollte sie ausgerechnet ihm ihre schwache Seite zeigen?

Ihm.

Einem gefallenen Engel, der sie am Ende vielleicht nur benutzte.

A fallen angel Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt