Kapitel 47

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POV Leo

Der Tag der Beerdigung meiner Mutter ist für mich wie ein stressiger Traum.

Ich bewege mich wie von selbst und helfe meinem Vater und meiner Schwester bei allen Vorbereitungen. Ich musste meine Schwester fragen, ob Kay wirklich gestern da war, weil ich dachte, ich hätte es mir eingebildet. Noch immer bin ich mir nicht zu hundert Prozent sicher, weil es sich so surreal anfühlt. Ich ziehe mir ein schwarzes Kleid an und schminke mich dezent. Dann laufe ich runter und steige zu meiner Tante ins Auto. Mein Vater ist schon vorgefahren, während meine Schwester und ich noch auf unsere Verwandtschaft gewartet haben. Es ist ein schöner Frühlingstag und die Sonne wärmt schon genug, dass eine leichte Jacke reicht, um nicht zu frieren.

Der Friedhof sieht im Sonnenlicht schön aus, weil überall Blumen sprießen. Es erinnert mich daran, wie Kay mir den wunderschönen Baum gezeigt hat. Es kann gut sein, dass ich mich genau hier in sie verliebt habe. Wir versammeln uns alle in einer kleinen Kapelle und ich sitze mit meinem Vater und meiner Schwester in der ersten Reihe. Der Mann, der die Beerdigung abhält, redet sehr angenehm und nutzt alles, was mein Vater ihm gegeben hat. Er erzählt vom Leben meiner Mutter und es berührt uns alle. Meine Schwester weint von Anfang bis Ende, auch meinem Vater kullern einige Tränen übers Gesicht. Ich versuche für die beiden stark zu sein, doch auf dem Weg zu ihrem Grab übermannt mich die Trauer auch. Die meiste Zeit starre ich nur auf den Boden und folge meinem Vater durch all die Gräber. Das Grab meiner Mutter ist weit entfernt vom Eingang des Friedhofes, aber zumindest nicht auf dem Berg.

Der Mann sagt noch einige Worte am Grab, dann treten meine Schwester und ich nach vorne und nehmen uns einige Rosenblätter. Ich schaue hinab auf den Sarg und schlucke. „Ich passe auf sie auf", flüstere ich und lasse die Blätter dann auf den Sarg hinabfallen. Ich muss daran denken, wie oft ich mit meiner Mutter in der Küche stand und sie zu lauter Musik gekocht hat. Es war immer das pure Chaos, doch sie hat es geliebt und gelebt. Sie hat unser Leben so viel bunter gemacht, mit ihren Handlungen und ihrem Wesen. Meine Schwester greift nach meiner Hand und ich drücke sie fest. Wir treten zur Seite und sehen dabei zu, wie meine Tanten und Onkel es uns gleich tun. Meine Mutter hatte viele Freundinnen und Bekannte, sodass es eine lange Schlange gibt. Viele der Leute gehen danach bereits in Richtung ihrer Autos um zum Kaffee in Richtung unseres Hauses aufzubrechen. Meine Schwester, mein Vater und ich warten jedoch noch und bedanken uns für all die netten Worte der Anwesenden.

Hinter den Frauen des Tennisvereins meiner Mutter erkenne ich einen Rollstuhl und keine Sekunde später, treffen mich Kays Augen. Sie trägt eine schwarze Hose und ein schickes schwarzes Hemd, das ihr sehr gut steht. Als die Frauen fertig sind, rollt sie nah an das Grab und sieht mich dann an. „Hilfst du mir?", fragt sie mich und ich brauche einen Moment, um zu kapieren, was sie meint. Als sie mir ihre Hand hinhält, trete ich jedoch sofort näher an sie heran und lasse zu, dass sie sich auf mich stützt. Sie steht auf und geht mit meiner Unterstützung den einen Schritt zu den Rosenblättern. Sie will meiner Mutter zeigen, was sie ihr geschenkt hat. Mein Herz wird warm und sofort schießen wieder Tränen in meine Augen. In Kays Augen glitzert es ebenfalls, als sie ihre Hand über den Sarg hebt und flüstert: „Es gibt Menschen, die die Welt einfach nicht verdient hat. Du hast mir mein Leben zurückgegeben und ich verspreche, ich werde es nicht verschwenden, nicht eine einzige Sekunde."

Sie lässt die Rosenblätter fallen und ich bekomme Gänsehaut an meinem ganzen Körper. Ich kann nicht anders als mich zu ihr zu drehen und mich in ihre Arme zu schmiegen. „Es hätte ihr so viel bedeutet", flüstere ich und Kay erwidert meine Umarmung fest. Ich weiß genau, dass meine Mutter Kays Geste geliebt hätte. Als ich ihr wieder in den Rollstuhl geholfen habe, gehen wir zum Ausgang des Friedhofes und mein Vater besteht darauf, Kay noch mit zu uns zu nehmen. Den ganzen Weg bis zum Auto halte ich ihre Hand, obwohl es für sie mit einer Hand mühsamer ist, sich fortzubewegen. Sie besteht darauf meine Hand nicht loszulassen und bringt mich damit zum Lächeln. Im Auto sitzt sie neben mir und ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter. Es gibt mir Kraft, dass meine Mutter die Beerdigung hatte, die sie sich gewünscht hätte.

Beim Kaffee trinken mit meiner Verwandtschaft werden Geschichten ausgekramt, die alle schon zehn Mal gehört haben, doch es ist schön, sich zu erinnern. Kay hört die ganze Zeit aufmerksam zu und lernt an diesem Tag vermutlich mehr über meine Familie als in den letzten Monaten. Ich wünschte mir manchmal, ich hätte mich schneller für sie entschieden und nie gezweifelt. Ihre Anwesenheit tut nicht nur mir gut, wenn ich meine Schwester betrachte, die auf der anderen Seite neben Kay sitzt. Sie hat in ihr jemanden gefunden, der sie verstehen kann und das bedeutet ihr unglaublich viel. Obwohl Kay ihre Beine zurückbekommen hat, konnte sie doch erleben, wie es ist, eine Behinderung zu haben. Wenn ich sehe, wie sie mit Zoey umgeht, weiß ich genau, dass ich ihr bedingungslos vertrauen kann. Gleichzeitig sehe ich an der Art, wie Zoey sich in Kays Nähe verhält, dass sie längst Teil unserer Familie ist. Meine Schwester hatte immer große Probleme, Menschen an sich heranzulassen wegen ihrem Gehörsinn, doch bei Kay hat es keine zwei Wochen gedauert. Nie hätte ich erwartet, dass hinter der coolen Fassade des Mädchens von der Bushaltestelle so viele Gefühle stecken. Sie hat mich immer wieder erneut überrascht und mit jeder Sache, die ich über sie lerne, verfalle ich ihr nur noch mehr. Das schwarze Hemd steht ihr unwahrscheinlich gut und ich erwische mich dabei, dass ich an unsere gemeinsame Nacht denken muss. Sie hat die Ärmel ihres Hemdes hochgekrempelt, sodass man ihre Unterarme sehen kann. Noch immer kann man an ihnen erahnen, dass Kay jahrelang Leistungssport betrieben hat.

„Leo", reißt mich ihre Stimme zurück ins hier und jetzt und lässt mich zusammen zucken. Ich sehe auf und bemerke, dass meine Tante mich ansieht, vermutlich hat sie mich etwas gefragt, doch ich habe geträumt. „Leo hatte mir mal erzählt, dass Linda die besten Pizzaschnecken der Welt machen konnte", rettet mich Kay und ich kann nicht glauben, dass sie sich das tatsächlich gemerkt hat. Es ist ewig her, dass ich ihr davon erzählt habe. Zum Glück gehen meine Tanten sofort darauf ein und die Aufmerksamkeit liegt nicht länger auf mir. Ich lächele Kay dankbar an und sie grinst ein Grinsen, dass mir zeigt, dass sie mein Starren bemerkt hat. Meine Wangen werden sofort wärmer, doch Kay greift nach meiner Hand und legt sie ganz selbstverständlich auf ihren Oberschenkel. Sie streichelt mit ihrem Daumen über meinen Handrücken und es gibt mir ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit. Mit der Zeit gehen immer mehr meiner Verwandten nach Hause und da ich morgen auch arbeiten muss, werde ich in meiner Wohnung schlafen. Ich fühle mich heute besser als in den letzten Tagen, trotzdem glaube ich nicht, dass ich gut schlafen werde.

Ich biete Kay an, sie nach Hause zu fahren und sie nimmt das Angebot widerwillig an. Ich weiß genau, wie sehr sie es hasst, anderen Leuten zur Last zu fallen. Dabei ist es sicherlich keine Last für mich, noch etwas mehr Zeit mit ihr zu haben. Sie verabschiedet sich bei meinem Vater und er bedankt sich für die Hilfe und ihre Anwesenheit. Bevor wir losfahren, bittet sie mich, noch kurz zu warten und meint dann: „Ich wollte es dir eigentlich schon früher sagen, aber ich wollte dich nicht belasten." Ich runzele die Stirn und sie seufzt: „Ich muss morgen Abend wieder in die Klinik, sonst bekomme ich die Unterstützung der Organisation nicht mehr." Mein Herz wird schwer, wenn ich daran denke, wieder von Kay getrennt zu sein. Gleichzeitig weiß ich, dass sie diese Therapie dringend braucht und niemals auf das Geld verzichten sollte. Also atme ich einen Moment durch und sehe sie dann an. In ihren Augen kann ich sehen, dass sie sich schuldig fühlt. Wie kann ein Mensch nur so perfekt sein. Ich will ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen machen soll und an sich selbst denken soll, doch stattdessen formt mein Mund die Worte: „Schläfst du bei mir?" Überrascht hebt Kay ihre Augenbrauen und muss dann leicht schmunzeln.

Sie nickt lächelnd und meint: „Das würde ich sehr gerne."


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