Kapitel 59

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Als ich um kurz vor sieben zur Bar gehe, bin ich seltsam nervös.

Ich freue mich darauf, Kay zu sehen, doch gleichzeitig habe ich noch immer eine komische Angst in mir. Sie wirkte vorhin viel entspannter und zufriedener mit sich selbst als noch vor wenigen Wochen. Wie kann ich mir aber sicher sein, dass sich ihre Einstellung nicht wieder verändert? Als ich sie von weitem an der Hauswand neben der Bar lehnen sehe, muss ich automatisch lächeln. Ich frage mich, ob dieses Gefühl, wenn ich sie sehe, jemals weggehen wird.

Sie schaut auf und sofort erscheint ein Grinsen auf ihren Lippen. Als sie auf mich zu kommt, scanne ich wie immer ihre Beine ab und bin wirklich beeindruckt. Ihr Gang wirkt beinahe so locker wie an dem Tag als ich sie kennen gelernt habe. Es ist unglaublich, was Kay in diesen letzten Monaten geschafft hat. Sie trägt eine enge Jeans und eine dunkelrote Jacke, die ihre grünen Augen betont. Bevor ich überlegen kann, welche Begrüßung angebracht ist, zieht sie mich schon in eine enge Umarmung. „Du siehst sehr hübsch aus", sagt sie mir ins Ohr und ich schmiege mich für einen Moment enger an sie. Ich lächele leicht, als ich mich von ihr löse und sie meint: „Danke, dass du gekommen bist."

Ich nicke nur und mustere sie dann prüfend, um herauszufinden, was sie im Schilde führt. „Ich weiß, du wirst hier sicherlich oft von irgendwelchen Möchtegern Aufreißerinnen angesprochen, das muss anstrengend sein", meint sie und ich muss leicht schmunzeln. „Kann man so sagen", erwidere ich und sie hält sich kurz ihre Hand an die Brust, als wäre sie schwer getroffen. Dann hält sie mir ihre Hand hin und fragt: „Vertraust du mir noch, meine Barkeeperin?" Für einen Moment lasse ich sie warten, um in ihren Augen erkennen zu können, was in ihr vorgeht. Tatsächlich zucken sie für einen Augenblick, als ich nicht sofort darauf eingehe und Unsicherheit blitzt in ihnen auf. Lächelnd erlöse ich sie und lege meine Hand in ihre. Ein wenig Erleichterung leuchtet in Kays Augen auf und sie verschränkt sofort ihre Finger mit meinen, als sie mich mit sich zieht.

Ich folge ihr und erkenne schnell, dass sie mich wieder zu dem Dach bringt, auf dem ich ihr damals meine Arbeit gezeigt habe. An der Leiter bleibt sie stehen und dreht sich zu mir, um zu fragen: „Denkst du, meine Beine schaffen den Weg nach oben?" Verwundert runzele ich die Stirn, weil ich nicht glauben kann, dass sie mich wirklich nach meinem Rat fragt. Ich verenge meine Augen leicht und frage: „Kennst du deinen Körper nicht am besten?" Sie wiegt ihren Kopf leicht von rechts nach links und meint: „Das kann sein, aber das ändert nichts daran, dass ich zu arrogant bin, um zu kapieren, dass ich nicht unbreakable bin." Ich muss leicht schmunzeln und sie lächelt verschmitzt. „Ich denke, das du bereit bist", sage ich ehrlich und bringe sie damit zum Grinsen.

Sie überlässt mir trotzdem den Vorrang und anders als damals bin ich auch wesentlich schneller als sie. Dadurch habe ich einen Moment Zeit, mich auf dem Dach umzusehen und traue meinen Augen kaum. Am Rand der Terrasse steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und einem Strauß Blumen darauf. Daneben stehen zwei Pizzakartons und zwei Dosen meiner Lieblingslimonade. Nie hätte ich Kay zugetraut, dass sie so etwas für mich machen würde. Sicherlich findet sie es selbst super kitschig, doch ich liebe es. Es zeigt mir, dass sie nicht mehr das Mädchen von damals ist.

„Darf ich bitten?", fragt sie und hält mir erneut ihre Hand hin. Grinsend nehme ich sie und lasse mich von ihr zu dem kleinen Tisch führen. Nachdem ich mich hingesetzt habe, setzt sie sich mir gegenüber hin und reibt sich über ihren Arm. „Es gibt so vieles, was ich dir gerne sagen will, aber vielleicht fange ich hiermit an." Sie greift in ihre Hosentasche und fischt einen kleinen goldenen Stecker heraus. Ich erinnere mich daran, dass ich meinen Ohrring in der Nacht in der Bar verloren habe. Scheinbar hatte ich ihn schon in der Nacht davor in Kays Bett gelassen.

„Was du in den letzten Monaten für mich getan hast, ist für mich kaum greifbar. Ich wusste nicht, dass ich mich so sicher und verstanden fühlen könnte. Ich dachte mein Leben lang, dass ich mich allein durchkämpfen müsste, doch du hast mir gezeigt, dass es einen anderen Weg gibt. Die Wahrheit ist, dass ich ohne dich niemals meine Beine zurück bekommen hätte. Ich hätte nach meinem Unfall so gerne alles aufgegeben, doch du hast mir einen Grund gegeben, morgens aufzustehen. Ich hatte meine Beine längst aufgegeben und bin nur zur Therapie gegangen, um dich zu sehen."

Ich kann nicht verhindern, dass ich rot werde und lächeln muss. Ich bin sehr überrascht, dass Kay so über ihre Gefühle redet in Bezug auf mich. Sie hat sich mir schon oft geöffnet, doch dabei ging es nie um uns. Sie steht von ihrem Stuhl auf und kniet sich vor mich. Es erinnert mich daran, wie oft ich so vor ihr saß und lässt mein Herz höherschlagen. Sie wirkt leicht nervös, als sie mir meinen Ohrring hinhält und fragt: „Erweist du mir die Ehre und wirst wieder meine Therapeutin?" Erstaunt weiten sich meine Augen, damit hatte ich nicht gerechnet.

Allerdings füllt diese Frage unerwartet eine große Leere in mir. Es hat mich so sehr verletzt zu wissen, dass jemand anderes an Kays Seite steht und das auch bei ihrer Genesung. Zögerlich verenge ich prüfend die Augen und frage: „Was ist mit Vera?" Sie lächelt leicht und meint: „Die hat gut verstanden, dass mich nur ein Mensch richtig behandeln kann." Mit einem Mal kapiere ich, dass Kay das alles geplant hat. Sie ist zurück in unsere Praxis gekommen, weil das die einzige Chance war, wieder von mir behandelt zu werden. Ich schüttele den Kopf, muss aber auch über ihre Aktion grinsen. „Sie ist sicherlich froh, dich wieder loszuwerden", meine ich und Kays Augen fangen an zu leuchten. „Ist das ein ja?", fragt sie aufgeregt und ich schmunzele. Ich nehme ihr nickend den Ohrring aus der Hand und bringe sie damit zum Strahlen. Sie legt ihre Lippen auf meine und ich erwidere den Kuss lächelnd. Es erinnert mich daran, wie ich durch den Regen zu ihr gelaufen bin. Ich kann immer noch kaum fassen, dass sie es diesmal ist, die vor mir kniet.

Als sie sich von mir löst, zeige ich ihr die Gebärden, die sie mir vorhin in der Turnhalle gezeigt hat und frage: „Hat Zoey dir gezeigt, was das heißt?" Sie lächelt ehrlich und erwidert: „Deine ganze Familie hat mir gezeigt, was Liebe heißt." Ich bekomme sofort Gänsehaut, weil ich weiß, dass sie damit auch meine Mutter meint. Ich lächele und meine: „Du hast es ihnen auch gezeigt." Für einen Moment sieht sie mir nur in die Augen, dann grinst sie leicht und steht auf. Sie stellt sich etwas mehr an das Geländer, breitet die Arme aus und ruft dann in die Nacht hinaus: „Sie gehört mir, hört ihr das?" Ich muss lachen und stehe ebenfalls auf, um sie vom Geländer weg zu holen, doch sie hebt mich grinsend hoch in ihre Arme. Sofort schlinge ich meine Beine um ihre Hüfte und streichele lachend über ihre Wange.

„Ich kenne niemanden, der so bescheuert ist wie du", sage ich und sehe in ihre dunklen Augen. Sie streicht lächelnd über meine Lippen und ihre Augen leuchten wie die eines Kindes als sie flüstert: „Ich kann dich tragen, Leo. Siehst du das?" Es erwärmt mein Herz, wie stolz sie auf ihren Fortschritt ist und ich bin es mindestens genauso. Ich küsse sie mit all der Liebe, die ich in mir spüre und fühle mich als wäre ich endlich angekommen.

Kay ist mein Inbegriff für Sicherheit, der beste Fehler meines Lebens, mein Zuhause.

Wir werden nie perfekt sein, doch sie wird immer genau das sein, was ich brauche.


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