Kapitel 35

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Auf dem Weg ins Krankenhaus reden wir nicht viel, nachdem ich Nika erzählt habe, was mit Leos Mutter ist.

Ich verstehe noch immer nicht, warum sie zu mir gekommen ist, doch für den Moment ist es wohl unwichtig. Leos Mutter ist sehr krank und ich fürchte, dass es diesmal wirklich nicht gut aussieht. Beim Krankenhaus hilft mir Nika in den Rollstuhl und will mich dann schieben, doch ich werfe ihr sofort einen warnenden Blick zu. „Wag es ja nicht", sage ich und sie hebt sofort die Hände, um zu zeigen, dass sie nichts machen wird. Sie läuft vor zur Anmeldung und findet heraus, wo wir hinmüssen. Wir nehmen zusammen den Aufzug und ich spüre, dass Nika ähnlich nervös wie ich ist. Ich seufze und meine: „Das wird schon."

Sie schüttelt den Kopf und ihr Atem ist unregelmäßig, als sie meint: „Ich bin nicht gerne in Krankenhäusern." Ich nicke nur, weil mich ihre Lebensgeschichte eher weniger interessiert. Auf dem Weg zu dem Zimmer von Leos Mutter wird sie jedoch noch unruhiger und ich bezweifele, dass das Leo in irgendeiner Weise helfen wird. Also halte ich sie auf und meine: „Brauchst du eine Minute?" Sie schüttelt den Kopf, doch nach einigen Sekunden nickt sie doch. „Versuch mal tief ein und auszuatmen", meine ich und mache es ihr vor. Sie verdreht die Augen, doch schließlich probiert sie es und schafft es, etwas herunterzukommen.

„Niemand mag Krankenhäuser", sage ich und versuche sie damit irgendwie zu unterstützen. Sie nickt nur und murmelt dann: „Meine Schwester ist hier gestorben, als sie gerade mal zwei Jahre alt war." Erstaunt weiten sich meine Augen und ich sage ihr, dass mir das sehr leid tut. „Meine Eltern haben sich danach voll in die Arbeit gestützt und dadurch unser Imperium aufgebaut. Jetzt ist das Geld ihr Baby." Ein Schauer jagt über meine Rücken bei ihren Worten. Zum ersten Mal spüre ich, dass ich tatsächlich Mitleid mit diesem reichen Mädchen habe. Meine Mutter hatte nie Geld, aber sie hat mir Liebe gegeben. Vielleicht war das sehr viel mehr wert, als ich dachte. Ein Teil von mir wünscht sich, ich würde diesem Mädchen nicht versuchen, die Freundin wegzunehmen. Mein schlechtes Gewissen bricht über mich ein, doch ich weiß, dass ich nicht diejenige bin, die ihr das beichten sollte.

„Du hattest damals niemanden, der für dich da ist, aber du kannst heute für Leo da sein", sage ich stattdessen und Nika sieht mir in die Augen. Ihre glasigen Pupillen schimmern leicht und sie nickt. „Vielleicht ist es doch gut, dass Leo dich hat", sagt sie nachdenklich und mein schlechtes Gewissen wird noch größer. Ich kratze mir nervös den Hinterkopf und meine: „Komm, lass uns zu ihr." Zum Glück folgt sie mir und kurz darauf klopfen wir an der Tür. Das Zimmer ist nicht groß, doch zumindest ist es allein für Leos Mutter reserviert. Sie liegt im Bett und ihr Körper ist mit allen möglichen Geräten verbunden. Im Stuhl direkt neben dem Bett sitzt Zoey und hält die dünne, blasse Hand ihrer Mutter. Leo steht am Fenster, dreht sich aber um, als sie uns hereinkommen hört. Ihre Augen sind rot vom Weinen und der Ausdruck in ihnen tut mir im Herzen weh. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie gerade durchmachen muss. Ihr Blick huscht zwischen mir und Nika hin und her und Verwirrung steht in ihrem Gesicht. Wer hätte auch je damit gerechnet, dass wir beide mal irgendetwas zusammen machen würden.

Nika handelt schneller als ich und zieht Leo in eine Umarmung. Da sie immer noch ihre Freundin ist, macht es nur Sinn, dass sie sie unterstützt. Außerdem muss ich einsehen, dass ich seit meinem Unfall nicht mehr sehr gut im Umarmen bin. Ich will Leo gerne irgendwie zeigen, dass ich da bin, doch für den Moment kann ich nichts machen. Also fahre ich stattdessen zu Zoey und lege meine Hand auf ihre Schulter. Sie zuckt zusammen und scheint erst jetzt zu bemerken, dass ich da bin. Auch ihr sieht man an, wie mitgenommen sie ist und ich muss nicht mal meine Arme öffnen, da hat sie ihre schon um meinen Hals geschlungen. Sie schmiegt sich in meine Schulter und ich streichele behutsam ihren Rücken. Nach einigen Sekunden löst sie sich von mir und zeigt mir mit ihren Händen, dass es diesmal sehr schlecht aussieht. „Es tut mir so leid", sage ich und betrachte ihre Mutter. Noch gestern hat sie so nett mit mir gesprochen und wirkte so, als würde es ihr besser gehen. Jetzt ist ihre Haut blass und ihre Brust hebt und senkt sich nur noch kaum merklich.

„Habt ihr was gegessen?", höre ich Nika fragen und als ich mich zu ihnen drehe, sehe ich Leo den Kopf schütteln. Nika wirkt wieder wesentlich souveräner als noch vor einigen Minuten und macht sich sofort auf den Weg, um etwas Essbares aufzutreiben. Man muss ihr lassen, dass sie sich ehrlich um Leo sorgt. Als sie aus der Tür ist, tritt Leo zu uns ans Bett und sieht mir zum ersten Mal, seit wir angekommen sind, in die Augen. Sofort steigen Tränen in ihre Augen und ich fühle mich schlecht, dass meine Anwesenheit ihre Emotionen scheinbar unkontrollierbar macht. „Ich weiß, es ist zu viel, dass wir beide hier sind. Ich gehe sofort, ich wollte nur sichergehen, dass du okay bist", sage ich in ihre Richtung, sodass Zoey es nicht hören kann.

Ich sehe Unsicherheit in Leos Augen aufblitzen, dann schüttelt sie ruckartig den Kopf. Bevor ich fragen kann, was ich tun kann, um ihr zu helfen, schiebt sie mich kurzerhand ein Stück vom Bett weg. Ich nehme für eine Sekunde an, dass ich gehen soll, als sie sich jedoch auf meinen Schoß setzt. Sie schlingt ihre Arme um mich und vergräbt ihr Gesicht an meinem Hals, als wäre ich ihre Rettungsboje auf dem weiten Meer. „Wir brauchen dich mehr als du denkst", flüstert sie in mein Ohr und ich bekomme sofort Gänsehaut. Nie in meinem Leben hatte ich das Gefühl, etwas Bedeutsames zu tun. Ich habe mich zwar immer für eine beeindruckende Person gehalten, jedoch nie für jemanden, der anderen Menschen helfen könnte. Ich war immer das unnahbare Mädchen, das immer für jeden unerreichbar bleibt. Wenn ich jedoch Leo in meinem Arm spüre und Zoey neben mir sehe, die ihre Finger mit meinen verschränkt hält, wird mein Herz warm. Meine Mutter ist die beste Person, die ich kenne, doch trotzdem konnte sie nie bei mir sein, um mir zu zeigen, wie man sich öffnet. Sie war immer arbeiten und ich würde ihr das nie vorwerfen. Hier zwischen den zwei Schwestern, die mir so sehr ans Herz gewachsen sind, fühle ich mich wie ein Teil einer Familie.

Ich spüre ihren Schmerz tief in mir und wünschte ich könnte etwas für sie tun.


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