Kapitel 54

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Als ich die letzten Meter die Düne hochlaufe und mir eine kühle Brise Meeresluft ins Gesicht weht, muss ich lächeln. Es ist ewig her, dass ich das Meer gesehen habe und ich habe es vermisst. Meine Mutter läuft einige Meter hinter mir, weil ihre Ausdauer nicht sehr gut ist.

 Langsam laufe ich einige Meter durch den Sand und vergrabe meine Hände darin. Mein Lächeln wird breiter und meine Schritte werden schneller, bis ich über den Strand renne. Ich lasse mich in den warmen Sand fallen und schließe lachend meine Augen. Ich fühle die Struktur des Untergrunds an meinen Beinen und es ist unbeschreiblich, wie gut es sich anfühlt. Ich höre meine Mutter über mir lachen und sagen: „Und ich dachte du wärst nicht mehr fünf."

Ich öffne meine Augen und sehe, wie sie auf mich herab grinst. Herausfordernd hebe ich eine Augenbraue und werfe sie dann mit Sand ab. „Na warte", sagt sie und revanchiert sich sofort, indem sie mir Sand ins Gesicht schmiert. Wir fangen an uns eine Sandschlacht zu liefern, bis meine Mutter irgendwann die Arme hebt und lachend meint: „Hab Erbarmen, ich gebe auf." Grinsend lasse ich mich neben ihr nieder und klopfe den Sand von meinen Klamotten. Wir beruhigen uns etwas und schauen hinaus auf die Wellen des Ozeans. In weiter Ferne kann man ein Schiff fahren sehen, es ist ein wunderschöner Tag. Meine Mutter lächelt mich an und legt ihre Hand kurz auf mein Bein: „Du beeindruckst mich jeden Tag aufs Neue." Ich muss über ihr Kompliment lächeln, doch dann erinnere ich mich daran, was ich sie fragen will und werde etwas nervös.

Ich streiche mit meinen Fingern über den Sand neben mir und meine dann: „Wie haben du und Dad euch kennengelernt?" Verblüfft runzelt meine Mutter die Stirn und braucht einen Moment, um meine Frage zu verarbeiten. Sie sieht in die Ferne und erzählt dann: „Er hat mich auf einer Party der Abschlussklassen angesprochen und wir sind Essen gegangen. Er war ganz der Gentleman und wir waren danach noch mehrmals im Kino und sogar im Theater." Ich muss leicht schmunzeln, weil ich genau weiß, dass meine Mutter mit Kultur nur wenig anfangen kann. „Woher wusstest du, dass du bereit bist?", frage ich und meine Mutter seufzt. Sie sieht mich an und meint: „Wären wir es gewesen, hättest du jetzt ein anderes Verständnis von Liebe." Ich schlucke und sehe in den Augen meiner Mutter, dass sie sehr genau weiß, was in mir vorgeht.

Sie streicht mir sanft eine Haarsträhne hinter mein Ohr und sagt: „Ich würde nie bereuen, deinen Vater kennengelernt zu haben. Nur durch ihn habe ich dich und du hast mein Leben zu etwas Besonderem gemacht. Ich wünschte nur, ich hätte dir zeigen können, wie unglaublich du bist. Wir haben dich zu oft gelehrt, dass Menschen gehen, wenn das Leben schwer ist. Ich will aber, dass du verstehst, dass du es wert bist, geliebt zu werden." Tränen steigen in meine Augen, weil mich die Worte meiner Mutter tief in mir berühren.

„Ich werde immer da sein, wenn du fällst. Du musst nur verstehen, dass es nicht schlimm ist, mal zu fallen." Sie zeigt auf meine Beine und sagt: „Ich war immer unglaublich stolz auf deine Leistungen und das weißt du. Du dachtest du hättest alles mit deinen Beinen verloren, aber das hast du nicht. Du hast im Turnen einen Ausgleich gefunden für das, was ich und dein Vater kaputt gemacht haben. Du hättest diese Last nie tragen sollen." Sie seufzt und zieht sich einen ihrer Ringe von ihrem Finger. Sie legt ihn in ihre Handfläche und zeigt ihn mir.

„Deine Oma hat mir diesen Ring vererbt und sie wollte, dass du ihn irgendwann bekommst. Sie hat immer daran geglaubt, dass du mal bei Olympia stehen würdest. Sie hat es schon geglaubt, bevor du deinen ersten Wettkampf bestritten hast und ich bin mir sicher, sie würde noch immer daran glauben." Meine Mutter nimmt meine Hand und legt den Ring in sie hinein. „Fang an, an dich zu glauben, Kay. Du kannst alles schaffen, was du dir vornimmst." Tränen laufen über meine Wangen und ich kann nicht anders, als mich in die Arme meiner Mutter zu schmiegen.

Ich habe in meiner Jugend immer all meine Gefühle verdrängt, weil ich mich nicht damit auseinandersetzen wollte, dass mein Vater uns verlassen hat. Ich habe mich in mein Training gestürzt und es war alles, was ich hatte. Die letzten Monate haben wir gezeigt, dass ich mehr bin als nur mein Körper. Ich habe fantastische Freunde und eine Mutter, der ich alles zu verdanken habe. Ich habe es geschafft zum ersten Mal in meinem Leben wirklich dankbar und glücklich zu sein und es hatte nichts mit Sport zu tun.

Wir sitzen noch lange am Strand und ich stelle meiner Mutter all die Fragen, die mir immer auf der Seele gebrannt haben. Sie erzählt mir viel von meiner Oma und ich merke, wie sehr ich sie immer noch vermisse. Ich erzähle ihr von dem Tag, an dem Leo mich zu ihrem Grab getragen hat und dass ich mir wünsche, dass sie mich irgendwann wieder behandelt. „Denkst du, dass du sie verdienst?", fragt meine Mutter mich und ich schüttele den Kopf. Ich lasse etwas Sand durch meine Hände rieseln und schaue aufs Meer hinaus: „Noch nicht, aber ich werde sie mir verdienen." Meine Mutter lächelt und sie nickt: „Daran habe ich keinen Zweifel."

Dankbar erwidere ich ihr Lächeln und lehne meinen Kopf an ihre Schulter. Alles wird gut, wenn ich daran glaube.

POV Leo

„Ich finde, du solltest das anziehen", sagt meine Schwester grinsend und hält mir ein buntes Blumenkleid hin. Wir sind im Zimmer meiner Mutter und schauen durch ihre Klamotten von früher, weil ich auf einer 80er-Jahre Party eingeladen bin. Jill hat kein Nein zu ihrer Einladung zugelassen, aber wenigstens habe ich mich dazu aufgerafft, Meg zu fragen, ob sie mit kommt. Sie hat mir schon mehrmals geschrieben, ob wir mal etwas trinken gehen wollen und ich will sie nicht abweisen, nur weil ich nicht an Kay denken möchte.

Es ist seltsam im Zimmer meiner Mutter zu sein, doch auf gewisse Weise fühle ich mich ihr heute besonders nah. Ich probiere ein paar der Kleider an und Zoey lacht mich meistens aus. Wir schaffen es schließlich trotzdem eins zu finden, das mir ganz gut steht und räumen den Rest wieder auf. Zoey zeigt mir mit Gebärdensprache, dass sie zu ihrem Freund geht und ich wünsche ihr viel Spaß. Als sie weg ist, laufe ich nochmal am Schrank meiner Mutter entlang und betrachte die Bilder auf der Kommode. Eins davon zeigt meine Eltern bei ihrer Hochzeit und meine Mutter sieht in ihrem Kleid wunderschön aus. Ich muss lächeln und streiche über all die Platten in einem der Regale. Als ich sehe, dass eins davon etwas vorsteht, will ich es reinschieben. Jedoch zögere ich und hole es stattdessen heraus, um es anzusehen.

Es ist eine Platte von Elvis Presley und sie erinnert mich sofort an die Worte meiner Mutter als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Ich muss schmunzeln und streiche über das Cover. Ich vermisse meine Mutter sehr, doch oft habe ich auch das Gefühl, sie dicht bei mir zu haben. Vorsichtig öffne ich die Hülle und hole die Platte heraus, um sie anzusehen. Dabei fällt jedoch noch etwas anderes aus der Verpackung auf den Boden. Verwirrt lege ich die Platte weg und hebe das Stück Papier auf, um es anzusehen. Ich falte es auf und erkenne sofort die Handschrift meiner Mutter.

Meine große, starke Tochter, ich wusste, dass du diesen Brief irgendwann finden wirst. Ich hoffe, dass mein Tod schon etwas in der Ferne liegt und du wieder schöne Gefühle mit dem Gedanken an mich verbindest. Ich weiß, dass du gut auf deinen Vater und deine Schwester aufpasst, weil du das immer getan hast. Ich bin unglaublich stolz auf dich und ich werde es immer sein. Versuch das Leben nicht immer so schwer zu nehmen und nimm es an, wenn die Menschen dir helfen wollen. Ich habe dich zu früh verlassen, aber du hattest bereits alles, was ich dir mitgeben konnte. Ich möchte nicht, dass du auf dein Leben zurückblickst und bereust, irgendetwas nicht getan zu haben. In meinem Leben habe ich so viele Dinge falsch gemacht, doch sie haben mich alle zu dem Menschen gemacht, der ich bis zu meinem Tod war. Ich wünsche mir, dass du dein Leben so sehr liebst, wie ich es getan habe und jeden Moment mit den Menschen, die du liebst, genießt. Egal wie schwer es dir das Leben macht, ich werde immer an deiner Seite sein. Ich liebe dich, meine Kleine.

Tränen verschleiern meine Sicht beim Lesen und ich muss mehrmals von vorne anfangen. Die Worte meiner Mutter berühren mich tief und für einen Moment habe ich das Gefühl, sie säße neben mir. Mir hätte doch klar sein müssen, dass ihre letzten Worte mehr zu bedeuten hatten. Wie immer schafft meine Mutter es, mich zu überraschen und zum Lachen zu bringen. Ich drücke den Brief an meine Brust und schließe meine Augen.

Sie hat Recht. Sie wird immer bei mir sein.

Ich bin nicht allein und egal was passiert, das wird sich nie ändern.


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