»Steck dir das sonst wo hin.«
An diesem Tag war es ruhig im Nest der Raben. Nur selten versammelten sich alle Attentäter hier, denn meistens reisten sie durch die gesamte Welt, um ihre Aufträge auszuführen. Oftmals waren nur die Rekruten – liebevoll Küken genannt – hier, um zu lernen, und einige ältere Raben, um sie auszubilden.
Aus diesem Grund war auch Sorah im Nest. Normalerweise würde sie am Rockzipfel ihres Mentors hängen und ihm auf Schritt und Tritt folgen. Aber er war schon seit einigen Tagen fort und daher musste sie sich mit Mialds Avancen herumschlagen, denn er kam immer wieder bei ihr an, wenn sie nicht ständig überwacht wurde.
Miald blinzelte. Offenbar war er nicht zufrieden mit Sorahs Antwort. Eine Hand hatte er neben ihr an der Wand abgestützt und gab sich damit die Illusion, ihr die Möglichkeit der Flucht zu nehmen. Oder vielleicht war es auch der Versuch an einer lässigen Geste.
Sorah hatte aufgehört, ihn verstehen zu wollen und beschäftigte sich nun nur noch damit, wie sie am besten aus der Situation kam, ohne dass die Raben sie vor die Tür setzten.
»Du kannst mir nicht sagen, dass du das zwischen uns nicht bemerkst«, sagte Miald. »Wir können es doch wenigstens miteinander versuchen.«
Sorah kannte Leute wie ihn. Diejenigen, die sich mit einem ›Nein‹ nicht begnügten und die sich erst überzeugen ließen, wenn man ihnen ein Messer an die Kehle hielt und mit dem Tod drohte. Oder spätestens, wenn man diese Drohung wahr machte.
Aus dem Augenwinkel sah sie eine Gestalt, die sie sofort als ihre Rettung erkannte. Ihr Mentor, er war endlich zurückgekehrt.
»Ich werde gerufen«, sagte Sorah und deutete mit dem Kinn auf den Ankömmling. Dieser hatte zwar gerade erst das Nest betreten, aber Miald hob trotzdem die Hände und wich einen Schritt von Sorah, als er ihn sah.
Ohne ein weiteres Wort wandte Sorah sich ab und hastete zu ihrem Mentor. Ein hochgewachsener und breitgebauter Mann. Eine Gestalt, die nur wenige Raben hatten, da sie bei Aufträgen oft hinderte.
Die dunklen Haare trug er in einem Zopf zusammengebunden. Die grauen Augen betrachteten sie, als wäre sie nichts weiter als eine Kakerlake, die er notgedrungen in seinem Haus dulden musste.
Ein schwerer Umhang mit breitem Pelzkragen lag auf seinen Schultern und verbarg den Vorrat an Waffen, den er ständig mit sich führte.
Dieser Sonnenschein in Person hieß Kematian und ihm durfte sie den ganzen Tag hinterherlaufen. Manchmal redete sie sich ein, dass es sie bestimmt auch schlimmer hätte treffen können, aber jedes Mal, wenn sie ihm begegnete, erkannte sie: Nein, schlimmer ging es nicht.
Sie hatte es nie laut ausgesprochen und bemühte sich auch stets – meist vergeblich – jeden Hauch eines Missfallens aus ihrer Miene zu verbannen, wenn sie ihn sah. Denn sie zog es vor, ihren Kopf noch eine Weile zu behalten.
»Wenn er sich dir noch einmal annähert, dann brich ihm die Hände«, sagte Kematian zur Begrüßung.
Sorahs Augenbrauen hoben sich leicht. Die Raben folgten so einigen Regeln und eine von ihnen war es, niemals mutwillig einen anderen der ihren zu verletzen oder gar zu töten. Es gab Ausnahmen, sehr viele Ausnahmen, nur galt keine von ihnen für Sorah.
Sie wog noch ab, ob sie es sich leisten konnte, Kematian über die Regel in Kenntnis zu setzen, da sprach er schon weiter.
»Er hat sich nicht gegen deinen Willen zu stellen«, sagte er.
Die zweite Regel, an die Kematian sie sehr oft erinnerte: Widersetze dich nie einem Höhergestellten. Und wenn dieser Höhergestellte er selbst war, dann war sie einen Kopf kürzer.
»Wir sind beides Rekruten«, sagte Sorah. Eigentlich hatte sie noch mehr ergänzen wollen, aber Kematians Miene verfinsterte sich und sie entschloss sich, lieber zu schweigen.
»Du bist mein«, fuhr der Rabe fort. »Das macht dich überlegen.«
Sorah folgte ihm nun schon seit mehreren Monaten, bald ein Jahr lang, und sie hatte mittlerweile herausgefunden, dass er eine besondere Stellung innerhalb der Raben eingenommen hatte. Sie hatte nur noch nicht erfahren, was ihn so besonders machte. Da er ihr auch nie etwas sagte, blieb es vorerst ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das sehr hoch auf ihrer ›Das will ich lüften‹-Liste stand.
Sorah räusperte sich. Am besten war es, dem einfach keine Beachtung mehr zu schenken und Miald bei der nächsten Begegnung nicht die Hände zu brechen. Sofern er es nicht provozierte.
»Während Eurer Abwesenheit haben die Diebe ein Abkommen mit dem Juwelier geschlossen und ihr Gebiet bis dorthin ausgeweitet. Aber wir –«
»Ich weiß, was während meiner Abwesenheit geschehen ist«, unterbrach Kematian sie.
Sie schloss ihren Mund wieder und fragte nicht, weshalb sie sich über zwei Wochen alle Details gemerkt hatte – die er ansonsten jedes Mal wissen wollte. Raben und Diebe führten Krieg gegeneinander. Die Sache ließ sich kurz zusammenfassen: Das Nest der Raben war schon seit ewigen Zeiten in Cyrill. Eines Tages aber waren die Diebe in diese Stadt gekommen und die Raben wollten nicht teilen.
Normalerweise interessierte sich Kematian für jede Kleinigkeit. Jeden Schritt, den die Diebe gegangen waren, jede Information, die die Raben aus ihnen herausbekommen hatten.
Nur an diesem Tag nicht.
»Statt dich weiter mit Nichtigkeiten zu beschäftigen«, fuhr Kematian fort, »solltest du deine Sachen packen. Wir brechen in einer Stunde auf.«
Sorahs Miene hellte sich auf. Das konnte nur bedeuten, dass sie einen Auftrag bekommen hatte ... oder eher: Kematian hatte einen Auftrag bekommen und sie durfte ihn begleiten. Für gewöhnlich bestanden ihre Tage und Nächte daraus, zu trainieren, noch mehr zu trainieren oder wahlweise von Kematian herumgeschubst zu werden und zu hören, wie unfähig sie war.
»Geh«, sagte der Rabe, als sich Sorah nicht vom Fleck rührte.
Sie nickte und eilte in ihr Zimmerchen. Viel besaß sie nicht, was sie einpacken musste. Das meiste trug sie ohnehin direkt am Körper oder sie konnte es auf eine tagelange Reise nicht mitnehmen.
Sie kontrollierte ihre Ausrüstung, prüfte, ob sie ihr Schwert vernünftig am Gürtel befestigt hatte und auch das Messer bei sich trug. Andere Waffen durfte sie nur mit sich führen, wenn Kematian es ihr erlaubte. Dabei war sie nicht besonders gewandt mit Schwertern oder Dolchen, stattdessen aber geschickt, wenn es um das Bogenschießen ging.
Jedoch zog sie es vor, nicht noch einmal mit Kematian über die Wahl ihrer Waffen zu streiten. Das letzte Mal war nicht zu ihren Gunsten ausgegangen.
Sie ließ ihren Blick durch das Zimmerchen schweifen, auf der Suche nach etwas, das sie vergessen haben könnte. Aber sie hatte alles, was sie brauchte.
Zu guter Letzt band sie ihre rote Lockenmähne zusammen. Nichts störte mehr, als bei allem, was man tat, die eigenen Haare im Gesicht und im Mund zu haben.
Nach nicht einmal einer halben Stunde verließ sie ihr Zimmer und trat an Kematians Seite, der schon beim Ausgang auf sie wartete.
Seine Miene hatte sich offenbar mit jeder Sekunde, die sie gebraucht hatte, weiter verfinstert. Er hatte ihr zwar eine Stunde Zeit gegeben, aber eigentlich wäre es ihm am liebsten gewesen, wären sie sofort aufgebrochen.
Er war selbstverständlich schon bereit gewesen, bevor er ihr überhaupt von dem Auftrag erzählt hatte. Seine Waffen hatte er in ihrem Beisein noch nie abgelegt und sie hatte ihn noch nicht einmal mit offenen Haaren gesehen. Niemals.
»Fertig?«, fragte Kematian.
Sorah nickte, ging aber gedanklich nochmal durch, ob sie wirklich nichts vergessen hatte. Dann wischte sie die Sorgen beiseite. Sie hatte alles, was sie brauchte.
»Gut«, sagte er. »Ich erkläre dir alles auf dem Weg.«
Wieder nickte sie und folgte ihm aus dem Rabennest hinaus. Wenn er nicht einmal abwarten konnte, die wenigen Details des Auftrages, die er mit ihr teilen wollte, im Versteck zu besprechen, dann musste er es wirklich eilig haben. Oder er war einfach nur mürrischer als sonst.
Nun, da Sorah darüber nachdachte, war es vermutlich Letzteres.
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The Tale of Sorah
FantasySorah ist ein Rabe in Ausbildung und eigentlich nicht für das Leben eines Attentäters geeignet. Ihre rebellische Natur und ihr Unwille, Befehlen zu folgen, machen es ihr schwer, sich den Assassinen anzupassen. Dennoch verbringt sie mehrere Monate be...