Von Schiffen und Sternen II

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Der junge Mann blieb nicht stehen. Sorah gab sich eine Sekunde, um ein Schnauben auszustoßen, dann setzte sie ihm nach.

Ihr monatelanges Rabentraining zahlte sich aus. Schon nach wenigen Augenblicken holte sie zu ihm auf. Sie aber bewies mehr Anstand als er, denn sie warf ihn nicht zu Boden, wie er es gemacht hatte, und folgte ihm stattdessen, bis er langsamer wurde und letztlich stehen blieb.

Er starrte auf den Horizont. Die Sonne war gerade hinter einigen Hügeln am anderen Ende der Bucht verschwunden und die rötlichen Strahlen im Meer mit ihr.

Dann seufzte er leise und presste die Lippen in Unmut zusammen.

Sie kam neben ihm zum Stehen und murmelte: »Arsch.«

Er machte einen Satz zur Seite.

»Was sollte das?«, wiederholte sie nun lauter ihre Frage von zuvor.

»Du bist ja immer noch da«, sagte er. »Warum bist du mir gefolgt?«

Weil«, sie biss die Zähne zusammen, »du mir meine Frage nicht beantwortet hast, also stell keine Gegenfrage.«

Er lächelte nervös. »Ich ...«, stammelte er und nahm seinen Blick von ihr, um ihn auf den Horizont zu richten. »Ich wollte den Sonnenuntergang zeichnen, bin aber zu spät aufgebrochen. Ich dachte, ich schaffe es noch, aber ...«

Das war die faulste Ausrede, die Sorah je gehört hatte.

Er stieß einen leisen Seufzer aus. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er und wandte sich wieder an sie. »Ich hoffe, du hast dir nicht weh getan.«

Ihr Blick verdunkelte sich. »Nein«, sagte sie. Einen Augenblick später bereute sie, ihre Antwort so früh gegeben zu haben. Es hätte sie brennend interessiert, wie seine Reaktion gewesen wäre, hätte sie bejaht.

»Gut«, sagte er und fuhr sich durch die dunklen Locken. »Ansonsten ...« Er schüttelte den Kopf, überlegte offenbar, was er sagen wollte.

»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich nun zum, wer wusste schon, wie vieltem Male. »Ich hätte dich nicht umrennen, oder mich zumindest danach um dich kümmern sollen. Und vor allem nicht wegrennen sollen. Du musst denken, ich hätte eine schlechte Kinderstube genossen.«

»Ich denke, du hast gar keine genossen«, entgegnete Sorah.

Der junge Mann stutzte kurz und wandte den Blick zu seinen Füßen. »Das kann ich verstehen«, murmelte er. »Ich ... ich würde das ungern so stehen lassen.« Er schob all seine Zeichenutensilien in die linke Hand und hielt ihr seine nun freie Rechte entgegen. »Mein Name ist Tolas.«

Sorah beäugte die ausgestreckte Hand für einen Moment, fand keine versteckten Waffen und ergriff sie. »Sorah«, stellte sie sich vor.

Seine Augen weiteten sich. »Ich erinnere mich an dich.«

Keine Worte, die ein angehender Rabe gern hörte.

Sie entzog ihre Hand langsam.

»Nein, so meinte ich das nicht«, sagte Tolas, setzte kurz an, wieder nach ihr zu greifen, ließ es dann aber bleiben.

»Du warst vorhin bei dem Kampf«, erklärte er und kramte in seinen Blättern herum, ehe er eines herauszog und es ihr entgegenhielt.

Die Szenerie, die darauf abgebildet war: Ein Raum voller Menschen und in der Mitte ein Käfig. Alles von ein wenig abseits auf dem Papier gefangen.

»Ich habe die Details noch nicht einfügen können«, sagte Tolas. »Aber das mache ich irgendwann, wenn ich wieder Zeit habe.«

Sorah warf ihm einen Blick zu und schob die Augenbrauen zusammen. Er war dort gewesen. Im ersten Moment hatte er wie ein anständiger junger Mann gewirkt, der sich nicht in solche Abgründe begab.

The Tale of SorahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt