Vom Fliegen und Fallen II

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Sorah behielt den Blick auf ihm, wusste aber nicht, was sie tun sollte. Tolas hatte zugegeben, dass er mehr war, als sie gedacht hatte, und dass er im Bilde war, wie es um ihn stand.

»Ich vermute, da habe ich nochmal Glück im Unglück gehabt.«

»Wovon sprichst du?«, unterbrach sie ihn. »Was soll daran Glück sein?« Sie war doch diejenige, die den Befehl erhalten hatte, ihn zu töten. »Bitte, verlasse die Stadt.«

Er schüttelte den Kopf und wich ihrem Blick aus. Den Stift ließ er endgültig sinken und schob die halbfertige Zeichnung von seinem Schoß.

»Ich fliehe schon so lange vor ihm«, sagte er. »Am Anfang hätte er mir vielleicht noch einen schnellen Tod gewährt, aber jetzt nicht mehr. Das war doch der einzige Grund, weshalb ich ihm gestern entkommen konnte.« Er deutete auf den Verband an seinem Arm. »Er hatte mich lebendig fangen wollen. Vermutlich, um mich zu den Raben zurück zu schleifen und dort vor aller Augen hinzurichten.«

Es war Sorah klar, dass dieser er von dem Tolas sprach, Kematian war. Nur wer war Tolas, dass er so vertraut mit dessen Arbeitsweise war?

›Jemand, der sich für den Sohn des Fürsten ausgibt‹, hallten die Worte in ihrem Kopf.

»Ich sah einst, was er mit denjenigen macht, die versuchen ihm zu entkommen«, fuhr Tolas fort. »Ich brauchte Wochen, bis ich das Blut von meinen Stiefeln gewaschen hatte.«

Er seufzte. »Morgen ist der Tag, nicht wahr?«, fragte er und sah zu ihr. Kühle hatte sich in die dunklen Augen geschlichen. Akzeptanz für sein Schicksal.

Sorah nickte. »Auf dem Ball«, hauchte sie. Die ganze Situation schien ihr irreal. Dort saßen sie, der Rabe und das Ziel, kaum einen Meter voneinander entfernt und unterhielten sich über den künftigen Mord.

»Auf dem Ball ...«, echote Tolas und nickte langsam.

»Du hast noch genug Zeit, um zu fliehen«, sagte sie.

Wieder legte sich dieses erschöpfte Lächeln auf seine Lippen und er schüttelte den Kopf. »Wenn es hier enden soll, dann endet es hier.«

»Aber vielleicht soll es doch gar nicht hier enden.« Warum war sie diejenige, die ihn zum Gehen überzeugen wollte, obwohl er wusste, dass er am folgenden Tag sterben würde?

»Aber vielleicht will ich, dass es endet.«

»Nein.« Ja, sie fühlte sich wie ein trotziges kleines Kind und hatte sogar den Drang aufzuspringen und mit dem Fuß aufzustampfen. Weshalb war er so uneinsichtig, obwohl es um sein Leben ging?

»Sorah«, sagte er und rückte vorsichtig an sie heran. »Ich fliehe schon eine halbe Ewigkeit vor ihm. Bevor ich hierher gekommen bin, habe ich mir gesagt, dass ich nicht länger weglaufen möchte, wenn er mich auch hier findet. Dies war mein letzter Ausweg. Ich ...«

Er holte tief Luft und richtete den Blick dann wieder auf Sorah. »Ich hatte gehofft, ich würde hier Seeleute finden, die den Ozean überqueren wollen. So hätte ich ihm entkommen können ... oder wäre bei dem Versuch gestorben. Aber niemand hier ist wahnsinnig genug. Wenn ...«

Er seufzte. »Ich weiß, es steht mir nicht zu, mir noch irgendetwas zu wünschen, doch ...« Er brach wieder ab, war sich nun offenbar nicht mehr so sicher, ob er seinen Wunsch aussprechen wollte.

»Darf ich dich um eine Sache bitten?«, fragte er nach einer kurzen Pause.

Sorah nickte, ohne zu zögern. Was auch immer er sich wünschen würde, sie wollte es ihm geben. Wenn er sich schon nicht überzeugen ließ, zu fliehen, wenn dies schon die letzte Nacht war, dann wollte sie keine Sekunde ungenutzt lassen.

Sie rückte an ihn heran und griff nach seiner Hand. Seine Finger waren lang und schlank, keine Blessuren und nur wenig Hornhaut zeugten von einem behüteten Leben.

Bei ihr hingegen war die Haut übersät von kleinen Kratzern und Schrammen. Eine Folge des Trainings, um ein Rabe zu werden.

Er ließ es zwar zu und verschränkte seine Finger in ihre, doch er sagte: »Das hatte ich eigentlich nicht im Sinn.«

»Oh«, machte sie und erkannte, dass sie einen Schritt zu weit gegangen war. Sie rückte schon wieder ein Stück ab und wollte ihre Hand seiner entziehen.

»Nein, alles gut«, sagte er schnell. »Wir können so verbleiben, wenn du möchtest.«

Ihr Herz setzte kurz aus. Ihr Mund wurde seltsam trocken.

Sie nickte.

Er streckte einen Arm nach ihr aus und lud sie ein. Sie schob sich zu ihm. Sein Arm legte sich um ihre Taille und zog sie die letzten Zentimeter zu sich.

Sorahs Herz schlug schneller. Hitze stieg in ihre Wangen und seine Berührung – wenn auch auf ihrer Kleidung, löste sanftes Prickeln auf ihrer Haut aus.

Wenn ihre Nähe nicht sein Wunsch war, was war es dann?

Seine Hand strich über ihre, zog sanfte Kreise auf ihrer Handfläche. Sie lehnte sich an seine Schulter. Es überkam sie der Drang, ihre Augen zu schließen und sich bei ihm anzuschmiegen. Für einen Moment nur wollte sie alles um sie herum vergessen.

Wärme breitete sich in ihrer Brust aus und entzündete ein Gefühl, das ihr in ihrem Leben zuvor stets verwehrt gewesen war. Geborgenheit.

Warum schien bei ihm die Welt nicht mehr ganz so trist zu sein und warum nur sollte er ihr am folgenden Tag schon entrissen werden?

»Wenn es morgen so weit ist«, sagte Tolas, brach aber ab. Er holte tief Luft und fuhr fort: »Könntest du es dann machen? Ich ... ich will ihm nicht die Genugtuung geben, dass er die Jagd selbst beendet.«

Sorah schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.« Ihre Stimme kaum mehr als ein Hauchen.

Sie sah zu Tolas. Sein Gesicht so nah, sie müsste sich nur einen Zentimeter zu ihm bewegen und ihre Lippen würden auf seiner Wange liegen.

Ein erschöpfter Ausdruck lag in seinen Augen. »Wir kennen uns doch eigentlich gar nicht«, sagte er. »Es wird einfacher sein, als du denkst.«

»Ich will das aber nicht tun müssen.«

»Denke nur daran, dass es mein Wunsch ist«, sagte Tolas. »Dann wird es dir bestimmt leichter fallen.«

Er strich ihr eine Locke hinter das Ohr. Dabei streifte seine Hand ihre Wange und hinterließ Hitze, die auch nach der Berührung noch blieb.

Sie glaubte nicht daran, dass es die Sache leichter machen würde. Wenn überhaupt sorgte all dies nur dafür, dass sie den nächsten Tag nie herbeisehnte.

In ihrem Augenwinkel blitzte etwas auf. Sie zuckte zusammen und sah gen Himmel. Was war das?

Dann leuchtete es erneut auf. Ein heller Funke in der Finsternis, der gen Boden flog und dessen Licht verglühte, ehe es den Horizont erreichte.

»Eine Sternschnuppe«, sagte Tolas und seufzte leise. »Vielleicht sollten wir es für heute dabei beruhen lassen.«

Und ein ›Morgen‹ wird es nicht geben. Sie lehnte ihren Kopf wieder gegen Tolas' Schulter und hoffte. Hoffte, dass er doch auf ihren Rat hören und die Stadt verlassen würde. Hoffte, dass sich doch noch einige Seeleute finden würden, um den Ozean zu überqueren.

Hoffte auf ein Wunder.

The Tale of SorahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt