Die Götterbilder wanken II

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Sorah legte ihr Ohr an den Eingang. Bei dünnen Türen gelang es ihr, so herauszufinden, ob sich Menschen auf der anderen Seite befanden.

Am Anfang hatte sie noch durch die Schlüssellöcher gespäht, aber Kematian hatte dabei stets gesagt: »Deine Ohren leisten dir bessere Dienste als deine Augen. Wenn du dich nur gut konzentrierst, dann kannst du ihre Atmung und ihren Herzschlag hören.«

Sie hatte nie Atmung oder Herzschlag durch Türen gehört und folglich wusste sie auch nicht, wovon Kematian sprach. Irgendwann aber war er ihr so auf die Nerven gegangen, dass sie nun tat, was er von ihr verlangte.

Sie hörte nichts.

Und er offenbar auch nicht, denn er ließ zu, dass sie die Klinke hinunterdrückte und eintrat.

Der Flur dahinter war leer und nur spärlich beleuchtet. Kein Teppich bedeckte den Boden, keine Gemälde die Wände. Ein einfacher Korridor, der sich schier endlos erstreckte.

Sie schlich voran und Kematian ihr hinterher. Stets lauschte sie, ob sie Schritte oder Stimmen vernahm, ob irgendetwas ihr verriet, dass sie nicht vollkommen allein waren. Am folgenden Tag sollte ein Ball stattfinden. Müssten nicht alle Diener überall herumwuseln und mit den Vorbereitungen beschäftigt sein?

Vielleicht war es aber noch zu früh oder sie waren in einem anderen Teil der Residenz unterwegs.

»Welche Verstecke hast du gefunden?«, fragte Kematian und damit wusste Sorah sicher, dass sie allein waren.

»Äh ...«, fing Sorah an. Sie hatte natürlich nicht auf Verstecke geachtet. »Da war ... eine Nische ...?«, riet sie. Es gab doch überall Nischen.

Kematians Blick verfinsterte sich, aber er sagte: »Gut, was noch?« Zwar wusste er, dass sie nur vermutet hatte, konnte sie jedoch dafür nicht behelligen, weil sie trotzdem richtig lag.

»Äh«, machte Sorah wieder. Da gab es noch mehr?

Kematian stieß ein Schnauben aus, packte sie am Kragen und zog sie zurück. Er deutete auf einen Schrank. Gut, den hätte sie wirklich sehen können.

Auf ein Gitter an der Wand kurz über dem Boden. Wie hatte er das bitte als Versteck identifiziert? Da war ein Gitter, das den Schacht dahinter versperrte.

Und er deutete nach oben. Der Stein war an einigen Stellen gebrochen und man könnte sich bestimmt irgendwie daran festhalten, ohne herunter zu fallen. Nur ›man‹ war nicht Sorah.

Der Rabe ließ sie los und sagte: »Weiter.«

Sorah ging wieder voran. Sie lauschte, sie spähte um jede Ecke, sie tat alles, was er ihr beigebracht hatte. Denn eines war sicher: Wenn jemand auftauchte, dann würde Kematian sie erst warnen, wenn sie schon fast in den Ankömmling hineingelaufen war.

Bei den Raben gab es weder Noten noch Prüfungen, die man abschließen musste, um ein vollwertiges Mitglied zu werden. Wenn der Mentor das Küken für bereit hielt, dann ließ er es gehen.

Und Sorah war noch nicht bereit, das wusste sie. Aber wenn sie jetzt zeigte, dass sie nicht hoffnungslos verloren war, dann würde Kematian ihr vielleicht öfter die Führung überlassen, ihr vielleicht auch schwierigere Aufträge geben. So sehr der Gedanke daran, auf eigenen Füßen zu stehen, sie ängstigte, so sehr strebte sie es an.

Der Korridor endete mit einer Tür. Sorah schluckte. Dahinter war es vielleicht nicht mehr so ruhig. Dahinter würden sie vielleicht jemandem begegnen.

Sie lauschte.

Nichts.

Trotzdem trommelte ihr Herz gegen ihre Rippen. Ihr Mund wurde trocken und sie zwang sich, tief durchzuatmen.

The Tale of SorahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt