Ein Tag ohne Sonne III

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Es war später Nachmittag, als sie sich endlich für das Kleid entschieden hatten, und immer noch war Sorah nicht fertig, um auf den Ball zu gehen. Ihre Haare waren das reinste Chaos – sie hatte am Morgen schließlich keine Zeit gehabt. Und Alette hatte gemeint, ein wenig Schminke würde ihr guttun – wie auch immer sie das auffassen sollte.

Alette widmete sich dieser Aufgabe, während Kematian sich um ihre Haare kümmerte. Offenbar wurde die Zeit knapp, ansonsten hätte er sich nie dazu durchgerungen.

Anfangs lief Sorah noch ein Schauer über den Rücken, wenn der Rabe ihre Locken berührte und seine kalten Hände ihre Haut streiften. Erstaunlicherweise aber gelang es ihm, ihre Haare zu kämmen, ohne dass es ziepte, und er flocht ihre Locken in eine kunstvolle Frisur.

Sie hatte ihm nicht zugetraut, dass er irgendwelche Fähigkeiten hätte, die über das hinausgingen, was man als Rabe brauchte. Auch konnte sie sich nicht vorstellen, wann und wo er es gelernt haben sollte.

Er würde seine freie Zeit – falls er so etwas überhaupt kannte – nicht damit verbringen, seine Haare zu flechten, und sie hatte ihn auch nie in weiblicher Begleitung gesehen. Sie selbst war die Ausnahme, aber für gewöhnlich zog er es vor, sie nicht anzufassen. Er griff nur immer nach ihrem Kragen.

»Nun, da ich Euch so sehe«, sprach Alette an Kematian gewandt. »Wie geht es eigentlich der kleinen Ava? Mittlerweile dürfte sie gar nicht mehr so klein sein. Wie alt ist sie jetzt? Siebzehn? Achtzehn?«

Zwischen Sorahs Augenbrauen bildete sich eine kleine Furche. »Wer ist Ava?«, fragte sie, ehe sie die Worte zurückschlucken konnte. Sie sah zu Alette, denn von Kematian erwartete sie keine Antwort.

»Seine Tochter«, sagte diese. »Ihr wisst nicht von ihr?«

Er war Vater? In Sorahs Brust entzündete sich ein Funke Mitleid für das Mädchen. Wenn er seiner Tochter auch nur im Entferntesten eine ähnliche Behandlung entgegenbrachte wie ihr und das über Jahre ... Das wollte sie sich gar nicht vorstellen.

Kematian stieß einen langen Atemzug aus. »Sie lebt nicht mehr bei mir«, sagte er.

»Oh«, machte Alette und hakte nicht weiter nach. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass dieses ›Sie lebt nicht mehr bei mir‹ eher ein ›Sie lebt nicht mehr‹ war.

Ciacas lachte leise. »Ist es nicht erstaunlich, dass jeder dahergelaufene Dieb mehr über das Mädchen weiß als der eigene Vater?«

Kematian warf ihm einen finsteren Blick zu, den er aber gekonnt ignorierte.

»Das liegt sicherlich daran, dass ihr Vater ein schlechter Vater ist«, sprach Ciacas weiter und Sorah fragte sich stumm, wo er seinen Mut gefunden hatte und ob sich dort auch ihrer versteckte.

Vermutlich hatte er aber erkannt, dass Kematian ihn für den Ball brauchte und daher fühlte er sich am heutigen Tag sicher. Am nächsten Morgen sollte er am besten das Weite suchen, wenn er seinen Kopf nicht verlieren wollte.

»Kein Wort mehr darüber«, sagte Kematian. Sein Ton nicht wütend oder laut, aber dennoch verlangte er Gehorsam. Er ließ seine Hände von Sorahs Locken sinken, um sich dem Dieb gänzlich zuzuwenden.

Sorah war es nur recht. Sie wollte nicht, dass er ihren Kopf in seiner Wut noch zerquetschte – denn ja, sie traute es ihm zu.

Ciacas' Lächeln wurde breiter. »Ihr macht mir keine Angst. Heute zumindest nicht.« Und damit bestätigte er Sorahs Vermutung.

»Mein Anführer hat Eure Tochter nun schon so lange«, fuhr Ciacas fort, wich aber einige Schritte von dem Raben, um nicht in seiner unmittelbaren Nähe zu sein. »Und Ihr habt nicht einmal versucht, sie zurück zu Euch zu holen.«

Sorah wandte sich zu Kematian um und erntete ein erbostes Zischen von Alette, die eigentlich gerade dabei gewesen war, Sorahs Lippen mit irgendeiner roten Farbe anzupinseln – nicht, dass sie sich besonders dafür interessierte.

»Die Diebe haben Eure Tochter entführt?«, fragte sie.

»Nicht direkt«, antwortete Kematian. »Und es ist ohnehin unwichtig.«

Unwichtig? Sorah traute ihren Ohren kaum. Wie konnte jemand – selbst wenn er so kalt und herzlos war wie Kematian – die eigene Tochter als ›unwichtig‹ bezeichnen.

Sorah hatte sich zurückhalten können, Ciacas tat es hingegen nicht. »Unwichtig?«, hakte er nach. »Sind all die Diebe, die Ihr auf Eurem Weg hingerichtet habt, auch unwichtig? Interessieren Euch Menschenleben so wenig? Lässt Euch das alles wirklich kalt? Glaubt Ihr, wir hätten nicht bemerkt, dass Ihr jeden Dieb, der Euch zu Gesicht bekommt, tötet. Glaubt Ihr, wir hätten nicht schon lange die Spur erkannt, die Ihr hinterlasst? Es ist ein Wunder, dass er sich so im Hintergrund hält, bei allem, was Ihr anrichtet.«

»Wer ist er?«, fragte Sorah, ehe Kematian auf das Gesagte eingehen konnte.

Ja, sie war in vollem Bewusstsein, dass sie sich in ein Gespräch ihres Mentors einmischte und er sie später dafür zurechtweisen würde, wenn er derzeit auch nicht riskieren wollte, einen Bluterguss in ihrem Gesicht zu hinterlassen.

Ciacas' Blick traf ihren. Seine Brauen schoben sich leicht zusammen. »Von meinem Anführer, dem Meisterdieb.« Er wandte sich zurück an Kematian. »Weiß sie denn wirklich gar nichts?«

Sorah ergriff erneut das Wort, obwohl es eigentlich an ihrem Mentor lag, zu sprechen. »Ich dachte ...«, fing sie zwar an, wusste nun aber nicht, wie sie den Satz zu Ende führen sollte. »Ich weiß, dass Diebe und Raben miteinander kämpfen. Ich weiß, dass Ihr Euch besser organisiert habt als je zuvor. Ich hatte nur nicht erwartet, dass alle Fäden in der Hand eines Mannes liegen.«

»Nicht ganz, meine Liebe«, sagte Ciacas. »Hätte er die Fäden in der Hand, würde es heißen, dass wir nur seine Puppen sind. Aber wir haben keine derartige Hierarchie wie ihr Raben, wir sind einander ebenbürtig. Selbst wenn der unerfahrenste jüngste Dieb zu meinem Anführer gehen würde und ihm eine Idee unterbreiten möchte, würde er es anhören.«

Er schwieg kurz, wog ab, wie viel er noch sagen konnte. »Und er hat sich nicht mit Gewalt unsere Treue verschafft. Er steht an der Spitze, weil er der Beste unter uns ist.«

Sorah runzelte die Stirn. Kein König gelangte ohne Gewalt an die Krone und ohne Gewalt hielt niemand den Thron.

»Wisst Ihr, wo er sich aufhält?«, ergriff nun Kematian das Wort. Seine Stimme hatte einen Teil des Befehlstons verloren und zeigte nur noch Kälte. Nicht, dass dies irgendetwas besser machte.

Ciacas richtete seinen Blick auf ihn. »Nein«, sagte er. »Und selbst wenn, würde ich es Euch nicht verraten. Wer weiß, was Ihr mit ihm tun würdet?«

Kematian stieß ein Schnauben aus, antwortete jedoch nicht mehr.

Alette hatte die Unterhaltung verfolgt, brummte nun am Ende aber nur: »Ich hätte wissen müssen, dass mit Euch ein normales Gespräch unmöglich ist.«

Sorah blieb ebenfalls still, doch sie beschlich die Ahnung, dass diese Streitigkeiten zwischen Dieben und Raben mehr Hintergrund besaß, als sie auf den ersten Blick vermutet hatte.

Es hatte sich jemand an die Spitze der Diebe gestellt und hatte dafür gesorgt, dass sie eine ernstzunehmende Organisation geworden waren. Und es war ihm nicht nur für kurze Zeit gelungen. Man möge meinen, dass Leute wie Diebe – Menschen, die größtenteils als Kinder der Straße aufgewachsen waren – unberechenbar und barbarisch wären. Zu nichts zu gebrauchen und ungebildet. Aber diese Meute bereitete den Raben nun schon seit Jahren Probleme.

Ciacas hatte es nicht direkt ausgesprochen, doch Sorah vermutete trotzdem, dass dies nur der Anfang war. Irgendwann – vielleicht nur in wenigen Wochen, vielleicht in einigen Jahren – würde sich ein Krieg entfachen.

All das nur, weil die Diebe ihren Anführer gefunden hatten.

Und offenbar hatte dieser Meisterdieb Kematians Tochter entführt. Kein Wunder also, dass er den Dieben so hasserfüllt gegenüberstand.

The Tale of SorahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt