Vom Fliegen und Fallen I

75 17 123
                                    

Als Sorah am Hafen ankam, sah sie gerade noch die letzten Reste der Sonnenstrahlen hinter den Hügeln auf der anderen Seite der Bucht verschwinden. Sie hatte länger, als sie erwartet hatte, in der Residenz und bei dem Dieb verbracht ... und zugegeben, sie war auch nicht sofort zu den Docks gegangen.

Erst hatte sie hin und her überlegt, wie sie am besten erneut mit Tolas in Kontakt treten konnte. Dann war sie durch die Stadt gerannt, hatte sogar erwogen, ein zweites Mal in die Residenz einzubrechen, aber doch von dem Plan abgelassen. Ohne Kematian würde sie zweifellos gefunden werden.

Später war ihr der Hafen eingefallen, aber auf dem Weg zu den Docks hatte sie sich verlaufen. Von daher war es nicht verwunderlich, dass sie erst bei Sonnenuntergang vor Ort ankam.

Zwar hatte sie sich nicht direkt mit Tolas hier verabredet, aber es war der einzige Anhaltspunkt, der ihr einfiel.

Sie ließ ihren Blick über den Hafen schweifen, doch sah ihn nirgendwo. Ein leises Seufzen verließ ihre Lippen und kalte Enttäuschung kroch in ihr Herz. Wie das erste Eis, das sich auf Pfützen legte, sobald der Winter in das Land zog.

Sie schlenderte über die Docks, hielt an der Hoffnung fest, dass sie Tolas begegnen würde. Und nach einigen Minuten fand sie ihn.

Er saß auf einer Kiste, auf seinem Schoß eine Zeichnung, und blickte zum Horizont, dorthin, wo die Sonne gerade untergegangen war. Seine Locken fielen ihm ins Gesicht und er strich sie hinter seine Ohren.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um im nächsten Moment aufgeregt in ihrer Brust zu trommeln.

Blödes Herz, beschimpfte sie es stumm. Warum musste es immer so reagieren?

Sie trat vorsichtig an Tolas heran. Falls er noch zeichnete, wollte sie ihn nicht erschrecken. Im Augenblick aber verglich er das Bild mit dem Original und prüfte, ob er etwas Wichtiges vergessen hatte.

Sorah kam bei ihm an und sah ihm über die Schulter. Er hatte genau den Moment eingefangen, den sie am Vortag gesehen hatte. Die Sonne, die kurz über den Hügeln stand und den Hafen in ihrem Licht erhellte. Noch war die Zeichnung grob, denn er hatte nicht viel Zeit gehabt, sie zu vervollständigen.

Er beschloss, dass er nichts vergessen hatte, und stieß ein leises Seufzen aus.

»Eigentlich müsste ich heute dich umrennen, meinst du nicht?«, fragte Sorah.

Tolas sprang auf die Füße und wirbelte herum. Er stolperte, strauchelte und sie streckte die Hand aus und hielt ihn, ehe er noch fiel.

»Danke«, sagte Tolas, als er sich wieder gefangen hatte, und ließ sie los. Er fuhr sich durch die Locken und sammelte ein, was er fallengelassen hatte. »Ich hatte gehofft, dich hier wiederzusehen«, sagte er. »Deshalb ...« Er räusperte sich, beendete den Satz aber nicht.

Stattdessen fragte er: »Wollen wir vielleicht wieder woanders hingehen? Hier soll heute Abend noch ein Schiff ankommen und dann wird es ziemlich voll und hektisch werden. Und vermutlich werden sie dann ohnehin jeden aus dem Weg schicken.«

Sorah nickte. »Wieder auf den Hügel?«, schlug sie vor. Sie hatte es dort gemocht. Irgendwann war es zwar kühl geworden, aber der Anblick der Sterne hatte sich gelohnt.

»Wenn du möchtest«, sagte Tolas. »Heute soll es viele Sternschnuppen geben.«

Sorah lächelte schwach. Sie hatte schon oft von diesen Sternen, die vom Himmel fielen, gehört, aber nie einen mit eigenen Augen gesehen.

Als sie auf dem Hügel ankamen, war die Sonne schon vollständig verschwunden und einer der Monde zeigte sich am dunklen Himmel. Sein Bruder versteckte sich immer noch. Fern am Horizont funkelte der Stern Media, den Tolas ihr am Vortag gezeigt hatte.

»Dann«, ergriff der junge Mann das Wort, »bist du nur noch bis morgen hier.«

Sorah nickte. »Morgen Abend geht es für mich weiter.« Sie seufzte schwer. So gern sie auch ausblenden würde, was sie am folgenden Tag gezwungen war, zu tun, sie konnte es nicht. Jetzt hatte sie die Möglichkeit, etwas zu ändern. Sobald der nächste Tag anbrach, war sein Schicksal besiegelt.

»Dürfte ich dann ...?« Tolas räusperte sich. »Dürfte ich dich zeichnen?«

Sorahs Brauen hoben sich.

»Nur, wenn du möchtest«, sagte Tolas schnell und wedelte mit den Händen. »Ist nur ein Angebot. Ich ... ich zeichne gern Menschen, die ich nicht vergessen möchte.«

Sorah strich sich eine Strähne hinter das Ohr. Am Vortag hatte er sie ›erstaunlich‹ genannt und nun gehörte sie zu denjenigen, die er nicht vergessen wollte. Ihre Wangen erhitzten und sie dankte stumm dem Mond für sein silbernes und vor allem verhaltenes Licht.

»Gern«, sagte sie, wohlwissend, dass es keine gute Idee war.

Tolas' Augen leuchteten auf. »Das freut mich. Möchtest du dich vielleicht setzen?«

Sorah kam der Bitte nach und ließ sich ins Gras nieder. Tolas nahm in weniger Entfernung vor ihr Platz. Er legte ein Blatt Papier auf eine feste Unterlage und dann auf seinen Schoß, ehe er sich seinen Stift griff.

Er musterte sie, nahm jede Wimper auf, die ihre Augen umrahmte, jede Locke in ihrem roten Haar.

Sie erwiderte den Blick, obwohl sie sich bei so genauer Begutachtung meistens abwandte. Ihr Herz schlug schneller und sie verfluchte es wieder still.

Für einen Moment ruhten seine Augen auf ihren. Das Mondlicht spiegelte sich in der dunklen Iris.

Er wandte sich ab, als wäre nun ihm diese Musterung unangenehm. Er krempelte die Ärmel hoch und setzte den Stift auf dem Blatt an.

Seine Hand zeichnete in geschwungenen Strichen, die Bewegungen flüssig. Ab und an richtete er den Blick wieder auf sie, um ihre Gestalt einzufangen, und brachte sie dann zu Papier.

Sorah sah zu seinen nun freien Armen. Einer von ihnen war verbunden, der Verband aber blutig. Die Wunde war noch nicht alt.

Kematians Worte hallten in ihrem Kopf nach. ›Wir sind nicht zum Spaß hier‹, als sie den Kampfring betraten. ›Das Ziel ist jemand, der sich für den Sohn des Fürsten ausgibt‹, als sie danach im Gasthaus waren.

Ciacas' Worte: ›Ihr habt Geschäfte mit dem jungen Tolas.‹

Und zu guter Letzt Tolas, der nun vor ihr saß und doch offen zugegeben hatte, dass er den Kampf angeschaut hatte.

Sorah schluckte. Irgendetwas fehlte, irgendein Puzzleteil, das sie noch nicht gefunden hatte.

Denn wenn Tolas im Untergrund von Kematian angegriffen worden war, wie hatte er überleben können? Er sah nicht aus, als hätte er schon jemals ein Schwert gehalten. Und selbst dann wäre es noch eine fast unmögliche Leistung, im Kampf gegen einen Raben zu bestehen.

Irgendetwas fehlte.

Sorah beschlich die leise Ahnung, dass mehr hinter diesem Auftrag steckte. Etwas, das Kematian ihr nicht gesagt hatte.

»Tolas.« Das Wort wollte kaum ihre Kehle verlassen und der Ton war kratzig.

Der junge Mann hob den Blick an. Sorahs Stimme hatte ihm verraten, welche Unruhe in ihrem Inneren herrschte.

»Du musst die Stadt verlassen.«

Er betrachtete sie kurz, dann wandte er den Blick ab und ein müdes Lächeln legte sich auf seine Lippen. Wie das, eines Flüchtigen, der es leid war, zu fliehen.

»Es wäre das Klügste, nicht wahr?« Die Worte klangen erschöpft. Er sank ein Stück in sich zusammen und rieb sich die Stirn. »Ich hatte schon geahnt, dass sie ihn irgendwann schicken würden. Nur, dass er in Begleitung erscheint, hatte ich nicht gedacht.«

The Tale of SorahWo Geschichten leben. Entdecke jetzt