Chapter 1

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Wisst ihr was Kinder am Meisten an der Schule hassen? Die Schularbeiten? Die Lehrer? Alles? Im größten Sinne wahrscheinlich...ja. Doch tatsächlich gibt es für einen Schüler nichts schlimmeres als den Schulanfang. Der Übergang von der Freiheit des Sommers, wo man machen konnte was und wann man es wollte, zur stickigen Schule im Herbst, die einem mit dem Ernst der Zukunft plagt. Woher ich das so genau weiß? Ganz einfach, ich sehe es Jahr für Jahr zu Schulbeginn, wenn die Neuankömmlinge sich von ihrer Familie verabschieden und dem Gebäude wie einem Erzfeind entgegen sehen. Als wäre es ein Ungeheuer, das sie entweder verschont oder ganz und gar verzerrt.

Letztes Jahr hat Troy Covent tatsächlich versucht einen Aufstand anzuzetteln, indem er am Tag seiner Ankunft die Kinder - so nenne ich alle, die zum ersten Mal auf der Black Forest sind - mit Schauergeschichten vertreiben wollte. Sein Ziel war wohl, dass die Black Forest einen schlechten Ruf bekam und geschlossen würde. Vielleicht hätte es funktioniert - er kann wirklich überzeugend sein - jedoch hätte er warten sollen, bis seine Eltern weg sind. Wie alle guten Eltern lösten sie das Debakel indem sie ihren Sohn mit einer peinlichen Geschichte - er hat Angst davor dass seine Eltern seine Spinne umbrachten während er auf der Black Forest ist und sie nicht beschützen kann - entschuldigten. Zwei Jahre davor hat sich sogar eines der "Kinder" - der Zwölfjährige Peter - die ganze Zeit an die Seite seiner Mutter gedrückt, weil er sie nicht gehen lassen und alleine in der Black Forest verbleiben wollte. 

Fazit: Der Schulanfang ist das Schlimmste!

Außer für mich. Denn mal ganz ehrlich: Was gibt es spannenderes? Für mich bedeutet der Schulbeginn ein neues Jahr voller aufregender Erlebnisse. Aus diesem Grund sitze ich auch auf der alten Eiche am Rande des Parkplatzes, auf dem sich schon haufenweise Eltern und Kinder tummeln. Gerade zu Beginn des Schuljahres, benehmen sich sowohl Schüler als auch Eltern und sogar Lehrer noch total bescheuert. Es ist, als würden sie unterbewusst den Sommer noch nicht los lassen wollen und sich deswegen trotzig gegen den bevorstehenden Alltag wehren. Die sich daraus ergebene Show ist besser als jeder Film. Am besten find ich es jedoch immer herauszufiltern, wer wiedergekehrt und wer neu dazugekommen ist. 

Wie jedes Jahr, so beachtet mich auch diesmal keiner der vorbeigehenden - wer hat schon Zeit am ersten Schultag nach oben zu schauen? - und ich habe die uneingeschränkte Möglichkeit mein Spyary (Spionage-Tagebuch) aufzufrischen. Von außen sieht es aus wie ein kleines Notizbuch. Schlicht, einfach, unschuldig. Tatsächlich ist es jedoch meine größte Waffe. Und Schwäche zugleich. Mein Freund und Feind. Mein Heiligtum und Fluch. In diesem kleinen Tagebuch, notier ich alle Information, so unwichtig sie auch sein mögen über die Schülerinnen und Schüler der Black Forest auf. Manchmal sind es nur ganz lapidare Sachen, wie die Lieblingsfarbe oder welchen Freund bzw. Freundin er oder sie hat. Doch es gibt auch Kritischeres, wie dass ein Sportler bei einem Spiel wetten abgeschlossen oder jemand bei einem Test geschummelt hat. Und dann gibt es auch Sachen, die so krass sind, dass ich mich nicht entscheiden kann, ob ich darüber lachen oder weinen soll. 

Sarah Matthews zum Beispiel hat vergangenen Frühling eine Internetseite erstellt, auf der sie ziemlich private Fotos von den Geschlechtsteilen ihrer Verehrer postet und dann über die männliche Gesellschaft herzieht. Anscheinend ist das ihre Ausdrucksweise von Feminismus. Mal was anderes, oder? 

Mein Spyiary verwende ich im Prinzip wie ein normales Tagebuch: Ich fange mit dem Datum an und berichte etwas über meinen Tag - nur dass ich dabei schildere, was ich über wen erfahren hatte und wie dies mir geglückt ist. Damit ich im Falle eines Notfalls nie lange nach dem richtigen Eintrag bzw. der richtigen Person suchen muss, habe ich mir ein Post-It-System ausgedacht:
Die Kinder, bei denen es nie sicher ist, ob sie bleiben oder gehen würden - Zuhause ist's halt doch am Schönsten - bekommen dünne gelbe Post-Its. Gemeinsam mit den Standards, welche von mir einen dünnen blauen Post-Its bekommen, kleben diese an der langen Seite des Notizbuches. Bei den Standards handelt es sich um Schüler, bei denen ich nur alltägliche Sachen drinstehen habe, die zwar interessant sind, jedoch keine große Relevanz besitzen. Habe ich zu einem späteren Zeitpunkt etwas wichtiges über eine Person der Standards erfahren, so markiere ich die erste Seite dieser Person mit einem orangenen Punkt und klebe anschließend nach oben einen orangenen Post-It an die entsprechende Seite, auf der ich diese Information festgehalten habe. Anschließend schreibe ich noch die Initialen dieser Person drauf. Dann gibt es noch die Fahnenflüchtigen - diejenigen, die es nicht auf der Black Forest ausgehalten oder sie abgeschlossen und verlassen haben. Diese haben keinen Post-It mehr, sind jedoch in "Gewinner" - dann ist eine Krone neben den Namen gemalt - und "Verlierer" - dann male ich nur einen traurig guckenden Smiley - eingeteilt. Zu guter Letzt ist da der pinke Post-It hinter dem sich die letzte und gefährlichste Gruppe verbirgt. Trouble. Dort sind die Schüler, die ein großes Risiko für mich darstellen. Sie wissen nämlich mehr über mich, als mir lieb ist.
Für eine Person von außen, sieht mein Spyary aus wie eine riesige Ansammlung von Post-Its, verborgen hinter einem langweiligen braunen Einband. Doch für mich verbirgt sich dahinter eine Welt voller Geheimnisse.

Invisible - Ich sehe deine GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt