Chapter 15

40 5 3
                                    

Als am nächsten Morgen mein Wecker klingelt, würde ich ihn am liebsten aus dem Fenster werfen. Mich unter der Decke verstecken und dafür beten noch etwas Schlaf ab zu bekommen. Gleichzeitig ist es mir egal, dass die Uhr erst 5 schlägt. Ich weiß das ich aufstehen müsste. Das ich mich beeilen müsste.

Dennoch bleibe ich auf dem Rücken liegen, die Arme ausgebreitet und schließe die Augen.
Meine Gedanken wandern zu meinem Traum zurück, an einen anderen Ort mit anderen Regeln, bis er verblasst und sich eine neue Szene auftut.
Ich seufze müde.
Das Gespräch mit meinem Vater lief wie erwartet nicht sonderlich gut - je nachdem wen von uns beiden man fragt.
Während er nun für die nächsten zwei Wochen eine Ersatzaushilfe hat, werde ich die nächsten beiden Wochen durcharbeiten. Der Plan sieht wohl so aus, dass ich von Freitag bis Sonntag die Abendschichten, wenn das Geschäft am besten läuft, übernehmen werde.

Ich könnte heulen und lachen zugleich.

Es sollte mich nicht mehr überraschen, dass mein Vater sich nicht mal die Mühe macht, nach einem Ersatz zu suchen. Ich bin bereits eingearbeitet, kenne den Laden und auch einige der Kunden. Kenne mich im Geschäft und hinter der Theke aus und hab keine Probleme damit die Rechnungen mir zu merken und abzukassieren. Ich bin die perfekte Wahl - und günstig noch dazu.

Es sollte mich nicht verletzen, dass er keinen Wert auf mein Wohlbefinden gibt. Dass er mich gar nicht fragt, wie es in der Schule läuft. Dass er mich manipuliert, damit ich ihm helfe. Dass er mir ständig ein schlechtes Gewissen bereitet, wenn ich ihn hängen lasse. Mir selbst mehr Arbeit aufbürde, damit er keine hat. Damit er es sich gut gehen lassen kann.

Die Aussicht zusammenzubrechen sollte mich nicht freuen, sollte mich nicht in freudiger Erwartung lassen. Ich will nicht zusammenbrechen. Ich habe keine Zeit zusammenzubrechen. Will nicht, dass mich irgendjemand zusammenbrechen sieht. ... Und dennoch frag ich mich, ob es genau das ist, was es braucht, damit sich etwas verändert. Damit ich erlöst werde aus meinem Gefängnis des Schweigens. Damit die Fesseln um meinen Hals sich endlich lösen.

Der Strudel zieht mich immer weiter runter, Richtung Abgrund. Es ist als würde ich ein Treppengeländer runterrutschen, ohne die Möglichkeit vorher abzuspringen, bis ich ganz unten angekommen bin. Bis mich der Strudel eingenommen hat und meine Seele verzehrt. Bis ich nur noch ein emotionsloses Wesen bin, dass weder denken noch fühlen kann. Das weder frei noch gefangen ist. Das einfach nur funktioniert, ohne richtig zu funktionieren. Ich hasse es wieder in den Abgrund zu rutschen. Wegen ihm wieder hinein zu rutschen. Doch es gibt keinen halt für mich. Keine Rettungsleine. Keine rettende Hand. Da ist nur der Abgrund, der freundlich seine Arme für mich freihält. Mich in meinem freien Fall auffängt.

Doch ich bin noch nicht bereit loszulassen.

Ich seufze wieder, schaue auf die Uhr und stehe endlich auf.

Ich werde sowieso nicht mehr einschlafen können.

* * * * * * * * * * * * * * * * * * * *

Lustlos trotte ich den leeren Flur entlang, in eine ebenso leere Eingangshalle. Die drückende Stille des Schulhauses, lässt mich verunsichert von Links nach Rechts blicken. Hatte Jaxon nicht gesagt, dass wir uns hier treffen würden? Hatte ich ihn eventuell missverstanden? Ugh. Wenn ich nun zu früh aufgestanden bin und er gar nicht kommt, dann-

"Suchst du jemanden?", flüstert mir auf einmal jemand verspielt ins Ohr.

Mein Schreckensschrei hallt durch die Eingangshalle. Hastig halte ich mir den Mund zu und will mich selbst begraben, als ich Jaxons lachen höre. "Auch wenn ich mich über deine Euphorie freue, Tiny, aber vielleicht solltest du lernen dich zu beherrschen. Nicht, dass du das ganze Schulhaus noch aufweckst."

Invisible - Ich sehe deine GeheimnisseWo Geschichten leben. Entdecke jetzt