„Er ist ganz ausgeglichen, ich weiß gar nicht, warum du eine solche Angst vor ihm hast", hörte Generis Ethonis sagen. Nicht, dass er unbedingt hatte lauschen wollen, aber sein Gehör war besser, als Ethonis und Emevra vermuteten. Er lag in seinem Strohbett, die Tür seines Zimmer war wieder fest verschlossen. Seine Adoptiveltern saßen im Wohnzimmer auf dem riesigen Sofa vor dem prasselnden Kaminfeuer.
„Er hat mich bedroht. Bei dir ist er immer lieb und nett, aber nicht bei mir. Er muss in seinem Zimmer bleiben, wenn du nicht im Haus bist", sagte Emevra bestimmt. Eine Weile herrschte Stille und er wusste, dass Ethonis das nicht wollte. Genau so wie er, denn wenn er so wie heute den ganzen Tag eingesperrt war und nichts zu Essen bekam, steigerte das nur seinen Frust.
„Emevra, er ist unser Sohn", sagte Ethonis, was Emevra schnauben ließ.
„Er ist ein Tier, nichts weiter. Seine Intelligenz hat er durch Menschenhand", erwiderte sie abschätzig. Generis spürte wieder einmal Wut auf diese Menschenfrau in sich aufsteigen. Ja, sie hatte recht, seine Intelligenz war durch Experimente im Labor entstanden, aber das änderte doch nichts daran, dass er nun einmal so war, wie er war. Er hatte Gefühle, genau wie Menschen und er wusste, dass es falsch war, wie Emevra ihn behandelte. Er drehte sich in eine etwas gemütlichere Position und spitzte weiter die Ohren.
„Emevra, Liebling, gib ihm eine Chance. Du weißt, dass du ihn nicht die ganze Zeit einsperren kannst", sagte Ethonis tadelnd, was Emevra jedoch mit einem Lachen kommentierte.
„Und warum nicht? Sonst laufe ich doch Gefahr, dass er mich irgendwann einmal angreift", widersprach sie. Generis ballte die Hände zu Fäusten und vergrub sich weiter im Stroh. Er konnte sich das nicht weiter anhören, sonst explodierte er noch irgendwann. Diese Frau war absolut verachtend allen gegenüber die nicht wie sie ein Hoher Mensch war. Zwar hatte er hier ein besseres Leben als viele Niedere Menschen oder die Androiden, aber was war das nur für ein Leben, in dem man zwar genug zu Essen und ein warmes zu Hause hatte, wenn man so abschätzig behandelt wurde? Im Prinzip war er doch ein Gefangener, der nur nach draußen durfte, wenn Ethonis es ihm erlaubte.
Generis presste sie Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Panisch versuchte er an etwas anderes zu denken als Emevra und ihr abschätziges Grinsen, wenn sie auf der anderen Seite der Glastür stand. Wie von allein wanderten seine Gedanken zu der neuen Gärtnerin, Laskina. Sie war anders als die anderen. Nicht nur, dass sie ungewöhnlich hübsch war, bei ihr hatte er das erste Mal in seinem Leben das Gefühl, dass er als gleichwertiges Lebewesen gesehen wurde. Auch wenn es eigentlich selbstverständlich sein musste, fühlte es sich gut an. Hoffentlich würde Ethonis sie noch öfter hier her bringen und hoffentlich würde er sich noch einmal mit ihr unterhalten können. Vielleicht würde sie sein Leben ein wenig lebenswerter machen, doch schnell verwarf er den Gedanken wieder. Vermutlich würde er sie ohnehin nie wieder sehen, da Ethonis diese Sympathie zwischen ihnen bemerkt hatte. Generis wusste nicht genau warum, aber anscheinend wollte Ethonis ihn von der Außenwelt abschirmen. Seufzend vergrub er sich noch weiter ins Stroh und versuchte zu schlafen. Allerdings schlich sich Laskina immer wieder in seine Gedanken, ihr Lächeln und ihre Freundlichkeit.
****************************
„Generis", riss ihn auf einmal eine Stimme aus seinem wohligen Halbschlaf und eilig hob er den Kopf. Im Haus war es dunkel und es dauerte einen Moment lang, bis er Ethonis Umrisse auf der anderen Seite der Glasscheibe erkannte.
„Generis, komm her", rief Ethonis noch einmal mit gedämpfter Stimme, so als wollte er nicht, dass Emevra etwas davon mitbekam. Eilig erhob Generis sich und ging zu ihm an die Scheibe. Ethonis trug nicht wie üblich seine schicke, teure Kleidung, sondern eine einfach Stoffhose und ein Hemd. Neugierig sah Generis ihn an und als er bemerkte, dass Ethonis ihm etwas durch eines der Luftlöcher hineinreichte, wandte er den Blick auf seine Hand. Es war eine große, saftig glänzende Kirsche aus dem Gewächshaus.

DU LIEST GERADE
Der Biss der Schlange
Science FictionIn einer Welt, geprägt von Unterdrückung, Gewalt und Leid scheint das Leben wenig lebenswert. Zumindest, wenn man zu denjenigen gehört, die unterdrückt werden, Gewalt und Leid erfahren. Doch sind es nicht genau diejenigen, die eine ungeahnte Energie...