Auch wenn ihr Ausflug an die Oberfläche nur kurz gewesen war, hatte er Atimis mit jeder Menge Mut und Energie erfüllt. Zu wissen, dass die Meereslebewesen hinter ihnen standen und ihnen halfen, war ein gutes Gefühl.
Inzwischen saßen sie wieder in dem Käfig der Grabungsmaschine, die Rilsa äußerst gewissenhaft programmiert hatte, sodass sie in drei Tagen wieder in der Nähe des Treffpunktes auskommen würden.
Rilsa saß neben ihm und knabberte an einem Apfel, während ihr Kopf auf seiner Schulter ruhte.
„Ikinngut würde ich ja gern mal treffen", sagte sie beinahe gedankenverloren. Atimis lief ein Schauer über den Rücken. Zwar kannte er Orcas nur aus Erzählungen und hatte Abbildungen von ihnen in seinen Büchern gesehen, aber allein bei der Vorstellung, ein solch großes Lebewesen aus der Nähe zu sehen, schlotterten ihm die Knie. Sicherlich waren seine spitzen Zähne fingerlang und auch wenn er ihm friedlich gesonnen war, rutschte ihm das Herz in die Hose.
„Weißt du, was mir eingefallen ist, als Kosiris seinen Namen erwähnte?", fragte Rilsa, woraufhin er den Kopf schüttelte und sie neugierig ansah.
„Ikinngut, das bedeutet Freund", sagte sie, was Atimis überrascht die Augen aufreißen ließ.
„Was für eine Sprache ist es? Und woher weißt du das?", fragte er, musste aber gleichzeitig lachen, denn Rilsa schien trotz ihrem Leben als Aussätzige jede Menge zu wissen.
„Ich bin viel in der Welt herumgereist und immer wieder auf einen bestimmten Mythos gestoßen", berichtete sie und nun war Atimis neugierig.
„Erzähl", forderte er sie auf und hing sofort wie gebannt an ihren Lippen. Ihm war klar, dass an den meisten Mythen etwas Wahres dran war und er neugierig auf diese Geschichte.
„Lange vor unserer Welt, wie wir sie heute kennen, als die bevölkerten Gebiete noch sehr viel größer waren, gab es Völker, die hoch im Norden in den Ländern des Eises und des Schnees lebten. Sie nannten sich Inuit und lebten nach ihren eigenen alten Traditionen. In ihrer Sprache bedeutet Ikinngut Freund", erklärte sie und Atimis dachte augenblicklich an weite, schneebedeckten Landschaften und eisigen Wind.
„Man sagt, dass auch heute noch Inuit in dieser Welt leben, allerdings sehr weit von hier entfernt, auf der anderen Seite des Meeres", fuhr sie fort, was Atimis keuchen ließ.
„Ich habe mir bisher noch nie Gedanken darüber gemacht, was auf der anderen Seite des Meeres sein könnte", gab er zu und kam sich sofort schlecht vor. Rilsa lachte.
„Vielleicht kann Ikinngut uns mehr über diese Welt erzählen. Soweit ich weiß, leben Orcas auch in kalten Gewässern. Womöglich kommt er sogar aus dem Reich der Inuit", sagte sie und sofort war Atimis trotz seiner Angst neugierig, diesen Orca kennenzulernen.
„Habe ich dir schon gesagt, dass du der Wahnsinn bist?", fragte Atimis lachend und zog Rilsa enger an sich. Sie kicherte und legte ihren Arm um seine Mitte.
„Kennst du noch mehr solche Mythen?", fragte er und spürte, wie sie an seiner Schulter nickte.
„Aber ja, ich kenne eine ganze Menge", antwortete sie und ungläubig schüttelte Atimis den Kopf.
„Kannst du sie mir erzählen?", fragte er und wieder nickte Rilsa.
„Kennst du den Mythos von einer Androidin, die sich in einen unverschämt jungen Menschen verliebt hat?", fragte sie. Atimis prustete.
„Nein, diese Geschichte kenne ich nicht", sagte er, konnte sich das Lachen aber kaum verkneifen. Rilsa erfüllte sein Herz mit Freude und er war froh, ihr seine Gefühle offenbart zu haben. Auch sie kicherte, doch dann holte sie tief Luft und setzte erneut an.
„Es gab wohl meine eine verwirrte, ausgestoßene Androidin, die unter der Erde lebte. Zusammen mit einer verschlagenen Schlange, die allzu oft ihre Klappe nicht halten kann", sagte sie seelenruhig, als würde sie tatsächlich eine Geschichte aus einer anderen Welt erzählen und nicht herumalbern.
„Oh und lass mich raten, wie es weitergeht. Eines Tages stolperte ein Menschenjunge in ihr Geheimversteck, der gar nicht so recht wusste, wie ihm geschah, als er dieses wunderschöne Mädchen sah", sagte er, doch Rilsa schnalzte mit der Zunge.
„Aber nein, so war es nicht. Dieser Junge war zunächst griesgrämig und voller Zorn", sagte sie, unterbrach sich dann aber. Atimis spürte, dass sie sich versteifte, denn auch er begriff auf einmal, zu was diese Geschichte unweigerlich führen würde. Er senkte den Blick auf seinen Schoß und seufzte.
„Du hast ja recht, so war es nicht. Dieser Junge hatte ein gebrochenes Herz, das durch die Androidin wieder geflickt wurde", sagte er leise und einen Moment lang hörten sie nicht als das schabende Geräusch der Grabungsmaschine. Rilsa umarmte ihn fester und legte ihre Hand genau auf sein Herz.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht an sie erinnern", sagte sie kleinlaut und auch wenn er sich fest vorgenommen hatte, nicht mehr an Laskina zu denken, drängte sie sich unweigerlich in seine Gedanken.
„Nein, es... es ist schon in Ordnung. Sie scheint glücklich mit ihrem Hohen Menschen zu sein und wäre das alles nicht geschehen, hätte ich dich nie getroffen. So hatte doch alles sein Gutes", sagte er, doch auf einmal schnürte sich seine Kehle zu und er fühlte sich, als würde er keine Luft mehr bekommen.
Rilsa löste sich von ihm, rutschte um ihn herum, sodass sie genau vor ihm saß und legte ihre Hände um sein Gesicht. Sofort fanden ihre Augen die seinen und sie hielt seinen Blick fest.
„Liebst du sie noch?", fragte sie, doch sofort schüttelte Atimis den Kopf.
„Nein", sagte er fest, seufzte dann aber. Er dachte an Laskina, wie sie ihm gesagt hatte, dass sie ihn verlassen wollte für ein besseres Leben bei den Hohen Menschen und noch einmal bekam sein Herz einen kleinen Riss.
„So ist es nicht. Ich dachte zunächst, dass ich sie noch liebe, aber als ich sie zusammen mit Ethonis gesehen habe, wurde mir klar, dass inzwischen Welten zwischen uns liegen. Sie ist wie ein anderer Mensch und selbst wenn sie wieder bei mir sein würde, habe ich das Gefühl, dass es falsch wäre. Sie hat die Entscheidung getroffen, die ich so niemals getroffen hätte", platzte es auf einmal aus ihm heraus und es fühlte sich unendlich befreiend an, mit Rilsa über seine Gefühle zu sprechen.
„Du meinst, dass sie sich gegen die Revolution entschieden hat?", fragte Rilsa nach und sofort nickte er.
„Ja, ich wusste, dass sie unzufrieden war, genau wie wir alle im Slum. Aber anstatt sich zu wehren, hat sie sich dem Feind angeschlossen", sagte er und sah, wie Rilsa langsam nickte.
„Auch unter den Niederen Lebewesen gibt es welche, die uns nicht unterstützen. Sie geben sich mit der Lage, so wie sie ist, zufrieden. Sie haben aufgegeben", sagte sie und auch wenn er selbst das niemals begreifen würde, wusste er, dass das sogar auf die Mehrheit die Niederen Lebewesen zutraf.
„Dennoch sollten wir sie und auch Ethonis retten, meinst du nicht?", warf Rilsa ein und sofort nickte er. Allein bei der Vorstellung, Laskina würde in der Flutwelle sterben, bekam er eine Gänsehaut.
„Sicherlich, auch wenn ich ihre Entscheidungen nicht nachvollziehen kann, hat sie es verdient, zu leben. Genauso wie Ethonis. Er ist ein guter Mensch", sagte er streckte die Arme aus und forderte Rilsa so stumm auf, näher zu ihm zu kommen. Ohne zu zögern gehorchte sie und schmiegte sich eng an ihn. Ihre Haar kitzelte seinen Hals und als er darüberstrich, seufzte sie zufrieden.

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Der Biss der Schlange
Science FictionIn einer Welt, geprägt von Unterdrückung, Gewalt und Leid scheint das Leben wenig lebenswert. Zumindest, wenn man zu denjenigen gehört, die unterdrückt werden, Gewalt und Leid erfahren. Doch sind es nicht genau diejenigen, die eine ungeahnte Energie...