Der Rest der Vorlesung vergeht sehr schnell. Oder eher wünsche ich mir, dass die Zeit voranschreitet und ich sehe alle fünf Minuten auf die große Uhr über der Tür und hoffe, dass es so schnell, wie möglich 12:30 Uhr wird. Glücklicherweise muss ich an diesem Tag nicht noch mehr machen - nur noch in die Bibliothek und meine Karte zum Bücher ausleihen abholen. Das wird wahrscheinlich schon unangenehm genug. Schließlich muss ich dann mit einer oder mehreren Personen sprechen, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sie könnten denken, ich wäre seltsam. Oder vielleicht glauben sie mir nicht einmal, dass ich schon studiere, weil ich noch so klein und kindlich aussehe. Und mich auch so verhalte.
Als die Vorlesung, die viel mehr eine generelle Einführung in das Physikstudium gewesen ist, endet, packe ich sofort meine Sachen zusammen. Auch, wenn es die ganze Zeit über komplett still war und sich scheinbar jede Person in dem Hörsaal auf die klaren Worte unserer Professorin konzentriert hat, geht es mir nicht gerade besser. 30 % der Studierenden der Physik brechen innerhalb des ersten Semesters ab. Nicht gerade viele schaffen es so weit, dass sie einen Masterabschluss machen können und noch weniger schaffen es am Ende, zu promovieren und in die internationale Forschung zu gehen - das, was sehr viele Personen nach einem naturwissenschaftlichen Studium wollen.
Und so, wie ich mich selbst in der Vergangenheit bereits kennengelernt habe, werde ich wohl zu den 30 % gehören, die innerhalb des ersten Semesters abbrechen. Auch, wenn ich in der Schule immer mindestens 13 Punkte in Physik hatte und die meisten anderen Personen aus meinem Kurs bis zum Abitur übertroffen habe, bin ich mir nun nicht mehr so sicher. Alle anderen Personen in diesem Hörsaal wirken so erwachsen, so selbstständig und unfassbar intelligent. Selbst, wenn ich in Physik immer mindestens 13 Punkte auf dem Zeugnis hatte und in meiner Abiturprüfung 12 Punkte geschrieben habe, sitze ich sicherlich mit einer Menge an 15-Punkte-Kandidaten und -kandidatinnen in einem Raum. Sicherlich sind sie alle besser. Immerhin trauen sie sich ja auch, der autoritären, leicht furchteinflößenden Professorin intelligente Fragen zu stellen. Ich konnte der schwarzhaarigen Frau die ganze Zeit über nicht einmal wirklich in die Augen sehen.
Als ich den großen Raum etwas später, als alle anderen, verlasse, fühle ich, dass eine Art Last von mir abfällt, während eine andere direkt wieder auf mich hinabfällt. Schaffe ich das alles überhaupt? Und das auch noch unter dem strengen Blick und dem beinahe schon angsteinflößenden Auftreten von Prof. Dr. Taghavi. Ich kämpfe mich durch die kleinen Gruppen an Studierenden, die auf den Fluren herumstehen und sich heiter miteinander unterhalten. Ihre Gespräche sind mir zu laut, mir geht es nicht gut, wenn ich die Menschen reden höre. Und plötzlich erscheint mir der Gedanke daran, dass ich heute auch noch in die Bibliothek gehen und meine Karte abholen muss, wie eine riesige, nicht zu bewältigende Aufgabe. Mit zitternden Händen verlasse ich das Gebäude und gehe durch den Regen den Weg entlang zur Bibliothek.
Nachdem ich auf den Treppenstufen hinunter zum Bibliotheksgebäude fast ausgerutscht bin, fühle ich mich wackelig auf den Beinen. Hinter den Fenstern des großen Gebäudes leuchtet warmes, gelbliches Licht und ich kann nahezu unendliche Bücherschränke sehen. Doch der Gedanke daran, gleich mit mir unbekannten Personen in Interaktion treten zu müssen, macht mir extrem viel Angst. Ich will eigentlich nicht, dass es so ist. Verdammt, ich werde bald, am 19. November, schon 20 Jahre alt - ich sollte das können. Ich denke zwangsläufig schon an irgendeine Bestrafung, die ich mir geben kann, falls ich das jetzt nicht hinbekomme. Schließlich geht es nur um diese verdammte Karte zum Bücher ausleihen, mehr nicht. Ich muss mich nur kurz bei der Rezeption anmelden, meinen Namen sagen, unterschreiben und meine Karte entgegennehmen. Und ich bete dafür, dass es sich bei der Person an der Rezeption um niemanden handelt, der Smalltalk liebt.
Als ich durch die große Glastür gehe, zittern meine Beine schon. Ich mache mich einfach auf den direkten Weg zur Rezeption der Bibliothek. Dort ist in diesem Augenblick niemand, der dort in der Schlange steht. Nur die Frau hinter der Rezeption sitzt dort und schaut scheinbar irgendetwas in ihrem Computer nach.
"E-Entschuldigen Sie...", spreche ich sie an und sehe dann auf das hellbraune Holz des Tisches, vor dem ich stehe und hinter dem sie sitzt. Die Frau dürfte etwa Anfang bis Mitte 40 sein und trägt eine sehr strenge Brille - ohne eine besondere Emotion, fragt sie: "Was kann ich für Sie tun?".
"I-Ich muss hier noch meine Karte zum Ausleihen abholen...", stottere ich und bekomme es dabei nicht hin, der Fremden in ihre grünblauen Augen zu sehen.Danach läuft alles so, wie ich es schon gedacht habe. Vollkommen überfordert nenne ich der Frau meinen Namen und unterschreibe auf irgendeinem Zettel, den ich mir nicht einmal genau durchlese und auf meiner Karte, die ich mit zittrigen Fingern entgegennehme. Nach einer kurzen Verabschiedung von der Frau, die zum Glück ebenso wie ich nicht besonders gesprächig zu sein scheint, verlasse ich die Bibliothek wieder. Eigentlich hätte ich dort bleiben können, schließlich waren nicht allzu viele Studierende dort und außerdem regnet es draußen wie in Strömen.
Trotzdem will ich lieber nach Hause, denn der gesamte Tag hat mich ohne Ende überfordert. Also setze ich mich an die nicht überdachte Bushaltestelle und lasse den Regen auf mich hinuntertropfen. Das habe ich auch früher schon oft getan.Nur jetzt ist es ein ganz anderes Gefühl. Früher ist es immer so schön gewesen und das Sitzen im Regen hat mich befreit, auch wenn ich meistens vollkommen durchnässt nach Hause gekommen bin und meine Mutter dann mit mir geschimpft hat. Sie hat immer gesagt, ich würde krank werden und könnte dann nicht zur Schule gehen, was eine Schande wäre. Denn schon wenige Fehltage bedeuten, dass man Unterricht verpasst. Und Unterricht verpassen bedeutet, dass es Fragmente von Themen gibt, die man nicht vollständig verstehen kann oder nur mit der Hilfe anderer erlernen kann. Und ich darf nur die besten Noten schreiben.
Glücklicherweise habe ich nun, wo ich an der Universität bin, kaum noch Kontakt zu meiner Mutter, welche in einer Kleinstadt in Brandenburg lebt, aus der ich ursprünglich komme.Als der Bus schließlich kommt, zeige ich nur schnell meine Monatskarte vor und setze mich dann in eine Sitzreihe, wo sich wenige andere Menschen befinden. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und höre einfach irgendetwas. Hauptsache, ich muss die Gespräche der anderen wenigen Menschen in dem Bus nicht hören und mich nicht auf die Eindrücke und den Lärm der Stadt konzentrieren. Man könnte mir vorwerfen, dass es eine falsche Entscheidung gewesen ist, in einer Stadt wie Berlin zu studieren, aber es gibt auch Momente, in denen ich es liebe, in einer riesigen Stadt zu wohnen. Aber diese Momente hat es seit meinem Umzug hierhin Ende September kaum bis gar nicht gegeben. Mittlerweile ist der 3. November.
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Andromeda
RomanceAimée ist schon immer eher introvertiert und sensibel, konnte sich nur schwer an neue Lebensumstände anpassen und ist von vielen Dingen überfordert. Trotzdem beginnt sie nun, mit 20 Jahren, ein Physikstudium an einer Universität in Berlin. Physik zu...