Als die Vorlesung beginnt, werden meine Augen schwer. Ich kann mich nicht einmal konzentrieren - das kann ich zwar sowieso nicht, aber in diesem Moment ist es besonders schwer. Das Licht ist viel zu hell, meine Augen brennen. Ich kneife sie zusammen und versuche, trotzdem die Worte an dem Whiteboard zu lesen und Prof. Dr. Taghavi irgendwie zuzuhören. Aber es fällt mir schwer. Ich versuche, die große schwarzhaarige Frau vorne an dem Pult mit meinem Blick zu fokussieren, aber die Gestalt verschwimmt immer wieder. Und schließlich falle ich mit dem Kopf einfach auf den Tisch. Davon wird sowieso niemand etwas mitbekommen.
In meinem Kopf verschwimmt alles - nichts ergibt mehr einen Sinn. Die Worte von Prof. Dr. Taghavi, die nur sehr gedämpft zu mir dringen, sind nur noch ein einziges unlösbares Puzzle aus für mich vollkommen unverständlichen Dingen und manchmal physikalischen Fachbegriffen. Aber im Endeffekt ist alles sinnlos. Und dann wird alles schwarz und ich bin weit weg.
Als ich später, gefühlte tausend Jahre später, meine Augen wieder öffne, spüre ich den unangenehmen Druck des Tisches gegen meine Stirn. Es tut weh, aber wenigstens ist es nicht allzu schlimm, denn meine Jacke und mein Collegeblock, die beide übereinander auf dem Tisch liegen das Gewicht meines Kopfes gedämpft haben. Das Licht ist zu hell, weswegen ich meine Augen sofort wieder schließe. Meine Wimpern sind feucht von den Tränen, die ich im Schlaf vergossen habe. Und ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Schliesslich fühlt es sich an, als hätte ich eine halbe Ewigkeit lang geschlafen.
-"Wenn es keine weiteren Fragen gibt, ist die Vorlesung hiermit beendet, danke für Ihre Aufmerksamkeit". Durch die Worte der Professorin öffne ich dann doch wieder meine Augen. Das Licht ist immer noch hell, aber wird nun gedimmt. Draußen prasselt der Regen und plötzlich ist es so still in dem Hörsaal. So, wie ich es eigentlich gerne haben würde, wenn ich dort in den Vorlesungen sitze. Aber wenn andere Menschen dort sind, höre ich alle Geräusche. Ihren Atem, das Umblättern in Büchern und Heften, das Geräusch der Stifte, das kratzen auf Papier. Und es überfordert mich so sehr, dass ich es nicht aushalte.
Ich hebe ganz langsam meinen Kopf und reibe mir meine müden Augen. Mein gesamter Oberkörper schmerzt und ich fühle mich so unendlich erschöpft, dass ich am liebsten sofort wieder einschlafen würde. Mein Blick wandert über die nun leeren Reihen vor mir. Ich denke an meine ganzen Kommilitonen, die so mühelos mit der Situation umgehen - auch, wenn sie größtenteils dem Klischee von introvertierten und leicht verrückten Physikstudierenden entsprechen, bekommen sie es alle hin. Und sie bekommen alles hin, immer. Es ist, als würden sie eine Welt bewohnen, die mir unerreichbar geworden ist. Ich kann das nicht. Ich bin wieder einmal zu unfähig. Aber warum ist es für mich so schwer? Warum fühle ich mich in diesem Umfeld so verloren und machtlos?
Plötzlich höre ich leise Schritte, welche sich mir nähern. Ich kann es schon erahnen - Prof. Dr. Taghavi. Und sie wird sehr enttäuscht sein. Schließlich kann man bei mir nichts anderes, als enttäuscht sein. Es ist gar nicht möglich. Ich traue mich, nach oben zu sehen, in ihre dunkelbraunen Augen. Das grelle Licht des Hörsaals brennt, aber ich habe zu viel Respekt und beinahe schon Angst vor dieser riesigen, imposanten Frau, dass ich mich nicht traue, wegzusehen. Es fühlt sich nämlich so an, als würde ich dadurch automatisch respektlos werden. Also starre ich sie an.
Ihr Blick ist schwer zu deuten - eine angsteinflößende Mischung aus Enttäuschung, Misstrauen und irgendwo, ganz tief im Verborgenen vielleicht sogar Sorge.-"Aimée, was ist los bei Ihnen? Warum schlafen Sie?", fragt sie mich schließlich mit einer ruhigen, aber dennoch bestimmten Stimme. Ich weiß nicht, was ich auf ihre Frage antworten soll und das weiß ich vor allem nicht, wenn sie mich so kalt und ohne eine deutbare Emotion anschaut.
"Es tut mir leid...", sage ich, doch ihr scheint es schon sofort nicht zu reichen.
-"Das zählt nicht Aimée! Schlafen können Sie auch zu Hause in Ihrer Wohnung, die sie sich schon bald nicht mehr leisten können, wenn das so weiter geht... So wie es sich bei Ihnen jetzt schon, in der zweiten Vorlesung, entwickelt, gehören Sie zu den 30%, die abbrechen... Und das ist sehr schade". Mit diesen Worten lässt sie mich alleine, geht wieder nach unten, greift nach ihrem Mantel und ihrer Tasche und verschwindet dann aus dem Raum.Ich bleibe alleine zurück und packe mühsam und langsam meine Sachen ein. Das Licht sticht immer noch in meinen Augen und draußen gießt es in Strömen. Trotzdem muss ich hier weg. Meine Professorin hat schon jetzt, nach der zweiten Vorlesung, die Hoffnung in mich vollkommen verloren. Sie ist enttäuscht. Ich bin dumm, zu nichts zu gebrauchen. Nicht einmal das Studium meines Lieblingsfaches, in welchem ich in der Schule immer am besten war, bekomme ich hin. Ich bin einfach nur unfähig und eine Versagerin. Also verdiene ich jede Strafe, die mich dafür erwartet.
Ich nehme meine Sachen und verlasse das Gebäude. Die meisten anderen Studierenden haben sich in den Fluren gesammelt - es ist ein regelrechter Albtraum, sich durch die Menschengruppen zu drängen, die sich überall auf den Fluren befinden. Einige haben sich auch unter dem Vordach vor der Tür zum Flur untergestellt und ich meine, bei diesen Menschen auch meine Professorin erkannt zu haben, aber ich bin mir nicht sicher. Eigentlich kann es mir auch egal sein. Für Prof. Dr. Taghavi, eine angesehene Professorin mit viel Erfahrung in Unterricht und Forschung, bin ich sowieso nur eine Enttäuschung. Ich werde das Studium abbrechen müssen, weil ich so schlecht bin und nicht hinterherkomme. Genau so, wie sie es gesagt hat.
Ohne erst einmal ein wirkliches Ziel zu haben, gehe ich einfach durch den strömenden Regen, der mich innerhalb von Sekunden komplett durchnässt. Wenigstens das spüre ich - dieses glitschige, etwas kühle Gefühl von Regen, der sich durch die Kleidung frisst und meine Haut benetzt. Es ist mir aber egal. Und so gehe ich einfach und gehe in die Richtung der Straße. Der Himmel ist dunkelgrau, in der Ferne höre ich Donnerrollen - vor Gewittern habe ich Angst.
Und kaum habe ich meinen Gedanken zu Ende gedacht, erscheint ein Wetterleuchten am Himmel, ich erschrecke mich, rutsche aus - und dann falle ich. Und es will nicht mehr aufhören.Schließlich komme ich einfach nur noch schmerzhaft auf und krümme mich auf dem nassen Untergrund zusammen. Meine Hand blutet und mein Knie tut weh. Aufstehen ist schwierig und ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht. Ich will liegen bleiben. Und die anderen Menschen können mich gerne sterben lassen.

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Andromeda
Romantik-PAUSIERT- Aimée ist schon immer eher introvertiert und sensibel, konnte sich nur schwer an neue Lebensumstände anpassen und ist von vielen Dingen überfordert. Trotzdem beginnt sie nun, mit 20 Jahren, ein Physikstudium an einer Universität in Berlin...