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TW! Explizite Erwähnung von Selbstverletzung

Das kurze Gespräch nach der Vorlesung am Mittwoch bleibt mir noch die restliche Woche über im Kopf. Ich habe eigentlich nicht erwartet, dass Prof. Dr. Taghavi noch einmal auf mich zukommt und mit mir über den Sturz von vor einer Woche spricht, schließlich bin ich ziemlich stark davon ausgegangen, dass es ihr nach kurzer Zeit sowieso egal ist. So, wie es nahezu jedem egal ist, wie es mir geht. Aber sie scheint, was das betrifft, anders zu sein. Sie sorgt sich - irgendwie zumindest. Ich selbst weiß jedoch, dass es ein großer Fehler ist, sich mit meinen Problemen aufzuhalten. Es ist komplette Zeitverschwendung und eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass solch eine intelligente, gebildete Frau wie sie den Fehler macht und sich für mich, ein vollkommenes Nichts interessiert.

Mittlerweile ist es Samstagmittag. Ich habe viel zu lange geschlafen, vor allem nach der anstrengenden Vorlesung bei Prof. Dr. Taghavi am späten Freitagnachmittag. Die ganze Zeit über war ich hochkonzentriert, habe mir alles notiert und sogar schon ein paar Kapitel in meinem Buch mit Post-Its markiert, um diese dann zu Hause zu lesen. Lediglich die Momente, in denen mein Blick ungewollt direkt auf den meiner Professorin traf, ruinierten meine Konzentration komplett. Ich weiß nicht einmal genau, warum, aber ihre dunkelbraunen Augen, die in dem grellen Licht des Hörsaals meistens geheimnisvoll und charismatisch gleichzeitig glitzern, ziehen mich immer wieder in unbekannte Weiten.

Manchmal, wenn ich ganz genau darauf achte und die Spiegelung der schimmernden Lichter in ihren dunklen, beinahe schon pechschwarzen Augen sehe, dann fühlt es sich so an, als würden sich die endlosen Weiten der Galaxie in ihren Augen befinden. Die Reflexionen der Lichter als Sterne und ihre dunkelbraunen Augen der endlose Weltraum.

Meine Gedanken sind wieder einmal viel zu poetisch für so ein dummes, unscheinbares Wesen, wie ich es bin, denke ich im nächsten Moment. Ich liege in meinem Bett, denn meine Kopfschmerzen, die am Freitagabend nach der Vorlesung plötzlich aufgetreten sind, machen es mir nahezu unmöglich, auch nur irgendetwas zu tun. Lernen und Lesen fällt mir schwer und endlich, nach fast zwei Wochen, mal meine Umzugskartons auszupacken, ist undenkbar. Schon der Gedanke daran, aus dem Bett aufzustehen, die zehn Schritte zum beinahe leeren Kühlschrank zu gehen und mir etwas zum Essen rauszuholen ist unerträglich. Also rolle ich mich in meine dicke, flauschige Bettdecke ein, vergrabe mich vollkommen in meinem Berg aus Kissen und Decken und hoffe einfach, dass ich nur ein wenig schlafen muss, um bald wieder fitter zu sein. Wie oft habe ich das nur schon gehofft?

Als ich mich auf die andere Seite drehe, betrachte ich den großen Raum meiner Studentenwohnung. Es ist viel mehr nur ein Zimmer mit Küche, Schreibtisch, Bett und einem angrenzenden Badezimmer, als eine wirkliche Wohnung. Meine Mutter hat aber ohnehin gesagt, dass ich es niemals schaffen würde, alleine für eine gute Wohnung zu sorgen. Ich wäre viel zu faul für die Haushaltsaufgaben, zu dumm zum Organisieren und irgendwann auch arbeitslos und könnte mir eine Wohnung mit mehr als einem Zimmer nicht mehr leisten. Und irgendwo hat sie Recht, immerhin steht ein Haufen Umzugskartons mitten in meinem Zimmer. Nur meine Sachen für das Badezimmer und meine Bettwäsche habe ich schon rausgeholt. Meine Kleidung liegt auf vielen kleinen Bergen verteilt im Zimmer herum, alle Einrichtungsgegenstände sind noch irgendwo in den riesigen Pappkartons, welche nun durch das Licht der Straßenlaternen von draußen einen bedrohlichen Schatten auf die Wand werfen.

Ich seufze tief und mir wollen gerade die Tränen in die Augen steigen. Aber ich heule nicht. Wenn ich noch mehr heule, habe ich verloren und es ist mir schon unangenehm genug, dass ich bei meiner zweiten Vorlesung bei Prof. Dr. Taghavi eingeschlafen war und wohl im Schlaf Tränen vergossen hatte. Ein wenig wünsche ich mir, dass das nie passiert wäre. Generell wünsche ich mir aus irgendeinem Grund, dass ich nun, wo ich meine Kommilitonen, Dozenten und Professoren kennengelernt habe, die Zeit zurückdrehen und nochmal neu starten könnte. Ich wüsste schon ganz genau, wie sich jeder einzelne Mensch verhält, was seinen Charakter ausmacht und wie er in bestimmten Situationen reagiert. Und so könnte ich mich dann anpassen und zu der perfekten Studentin, wenn nicht sogar zu der perfekten Person werden. Das würde jeden glücklich machen.

Ein paar Stunden sind vergangen und ich wache mit nur noch schlimmeren Kopfschmerzen auf. Draußen ist es bereits stockdunkel, die Uhr auf meinem Handy zeigt 19:30 Uhr. Die Straßen vor dem Studentenwohnheim sind nie leise, vor allem nun am Wochenende nicht, aber die lachenden Jugendlichen, die Musik aus manchen Lautsprechern und Autos und die fröhliche Feierlaune stehen in einem kompletten Kontrast zu mir. Und in diesem Augenblick, ganz ausnahmsweise in diesem Moment wünsche ich mir, wie die anderen zu sein. Ich wünsche mir, auch mit zu den Partys zu gehen, mich komplett zu betrinken, den Rausch zu leben und wenigstens einmal dazuzugehören. Aber in der Realität liege ich stattdessen mit drückenden Kopfschmerzen und Tränen in den Augen in meinem kleinen Bett und verkrieche mich in einer Höhle aus Bettdecken und Kissen.

Zögerlich nehme ich mein Handy in die Hand. Mein Ärmel rutscht mir herunter und sofort werde ich wieder daran erinnert, wie meine beiden Unterarme aussehen. Nun sind es nicht mehr nur seit Monaten und Jahren verheilte Narben, sondern wieder frische Wunden. Nicht so frisch, dass ich sie noch verarzten müsste, aber sie sind durchaus erst wenige Tage alt. Noch mehr Tränen treten in meine Augen. Ich bin so verdammt hoffnungslos. Egal, wie sehr ich manchmal in der Universität vor allem durch die Vorlesung von Prof. Dr. Taghavi motiviert bin, weiß ich insgeheim, dass ich es sowieso nie schaffen werde. Ich weiß nicht, wozu ich das alles noch tue. Denn ich bin zu unfähig. Und das, so beschließe ich in diesem Moment, wird der Grund sein, warum ich mein Studium vorzeitig beenden werde.

Entschlossen suche ich auf meinem Handy auf der Seite meiner Universität nach der Email Adresse des Universitätspräsidenten. Ich werde ihm mitteilen, dass ich gehen werde. Mir ist bewusst, dass ich nicht gut genug bin und es nicht schaffen werde. Ich bekomme nicht einmal mein eigenes Leben hin, kann mich nicht einmal an meine Altersgruppe anpassen und eigentlich bin ich nichts weiter als ein dummer, von dem Rest der Welt isolierter Außenseiter. Es ist verständlich, wenn mich niemand haben will und ganz sicher bin ich nicht dazu in der Lage, ein Physikstudium zu absolvieren. Das macht mein Gehirn nicht mit. Ich habe mich wieder einmal komplett überschätzt, hochgestapelt - wie immer.

Doch in der Realität reißt mich plötzlich etwas ganz anderes aus dem Konzept. Denn gerade, als ich auf Kontaktdaten der Lehrenden geklickt habe und nach unten scrollen wollte, um die Email Adresse des Universitätspräsidenten zu finden, sticht mir etwas anderes ins Auge. Prof. Dr. Natalia Taghavi - Professorin für Physik und Astronomie. Es ist wohl eine Art Steckbrief, welchen es zu jeder Lehrperson der Universität gibt. Bei jedem stehen die Fachgebiete, ein kleiner Lebenslauf und die Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme in der Form von einer Email Adresse.

Wie von irgendeiner fremden Kraft gesteuert, klicke ich also, ohne weiter darüber nachzudenken, was gerade mein eigentlicher Plan war, auf den Steckbrief von Prof. Dr. Natalia Taghavi.

AndromedaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt