Mit meinem Ärmel wische ich mir die Tränen aus dem Gesicht und drehe mich zu der älteren Frau, die mich mit einem kalten Gesichtsausdruck ansieht. Ich habe mir von dem Gespräch nicht nur ein wenig mehr erhofft, sondern es hat mich auch siemlich verletzt, noch weiter runtergezogen. Warum ist Prof. Dr. Taghavi nur plötzlich von einem auf den anderen Moment so kalt geworden? Aber zum Beantworten der Frage ist in meinem Kopf ein viel zu großes Chaos. Langsam bewege ich mich zur Tür. Die ganze Zeit überlege ich, was ich sagen soll oder ob ich mich für das Gespräch bedanken soll. Schließlich hat sie wahrscheinlich Recht und ich stelle mich wieder einmal viel zu sehr an. Wie immer. Und es würde mich auch kein bisschen wundern, wenn auch meine Professorin ein wirkliches Problem mit mir hätte. Ich bin dafür gemacht, um gehasst zu werden.
"D-Danke...", flüstere ich leise und sehe Prof. Dr. Taghavi zum Abschied ganz kurz ins Gesicht. Ihr Blick wirkt immer noch kühl und ernst, fast schon ein wenig genervt davon, dass sie sich mit mir abgeben muss und dass sie, um es in ihren eigenen Worten von vor nicht einmal zwei Minuten auszudrücken, ihre Zeit mit mir verschwendet hat. Die schwarzhaarige Frau nickt einmal kurz und ab dem Moment, in dem wir uns nicht mehr ansehen und ich mich darauf vorbereite, durch die Tür zu schreiten, den Flur entlang zu gehen und dann meinen Weg nach Hause in mein dunkles, chaotisches Loch anzutreten, laufen wieder unendlich viele Tränen über mein Gesicht. Vor allem Tränen der Erkenntnis dessen, dass sie Recht hat. Mit mir sollte man nicht seine Zeit verschwenden und es ist verdammt schlecht und schwach von mir, dass ich jetzt schon aufgeben will. Ich bin ein schlechter Mensch, ein sehr schlechter Mensch und dafür muss ich eine gerechte Strafe bekommen.
Doch während ich durch die Tür gehe und mir bereits eine Bestrafung für meine Schwäche und mein schlechtes Verhalten überlege, höre ich plötzlich ein tiefes Seufzen hinter mir und dann die Stimme von meiner Professorin, welche sagt: "Aimée... Ich wollte Sie mit meinen Worten nicht verletzen... Ich habe nur das Gefühl, dass Sie sich selbst so sehr unterschätzen, dass Sie dadurch sich selbst und auch Ihre Verbindungen zu anderen Menschen kaputt machen...". Ich drehe mich langsam um. Wieder ist mein Blick verschwommen durch die vielen Tränen. "Aimée... Können Sie bitte kurz wieder reinkommen... Ich kann Sie nicht mit den Tränen im Gesicht gehen lassen...", bittet sie mich mit einer nun viel ruhigeren, aber trotzdem noch strengen Stimme. Ich betrete wieder ihr Büro und stehe ihr, dieser hochgewachsenen, eleganten Frau direkt gegenüber. Mein Blick versinkt, trotz meiner verschwommenen Sicht, in ihren Augen.
Für einen kurzen, etwas unangenehmen Moment sehen wir uns wortlos an, bevor sie zu einer Verpackung mit Taschentüchern, welche auf einem Regal in der Ecke ihres Büros gelegen hat, greift und mir diese reicht. Ich wische mir mit dem weißen Tuch die Tränen von den Wangen und sehe dann zu Prof. Dr. Taghavi. Sie sieht mich mit einem Blick an, den ich definitiv nicht klar einordnen kann. Irgendwo zwischen Anspannung, Reue, Sorge und Verzweiflung liegt er.
-"Es tut mir leid, dass ich mich eben su unglücklich ausgedrückt habe, Aimée... Das darf mir eigentlich nicht passieren", entschuldigt sie sich aufrichtig und streicht sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich presse einfach nur meine Lippen aufeinander und nicke."I-Ist okay, Sie haben ja recht...", sage ich leise, sehe nach unten auf meine Hände und denke wieder daran, dass ich mich erst vor wenigen Tagen wieder selbst verletzt habe, weil ich ganz genau weiß, wie dumm und unfähig ich bin und dass mich niemand jemals lieben wird, solange ich keine Bestleistungen bringe.
-"Ja, aber ich hätte es anders ausdrücken können... Ich möchte nur nicht, dass Sie sich selbst im Weg stehen, Aimée... Sie haben sehr viel Potenzial und können sicherlich in der Zukunft zu einer guten Wissenschaftlerin werden... Aber ich denke, dass das nur wirklich geht, wenn man an sich selbst glaubt, hm?", erklärt Prof. Dr. Taghavi und ehrlich gesagt verstehe ich sie. Vorsichtig legt sie ihre Hand auf meinen linken Unterarm und streichelt kurz darüber. Ich muss lächeln und sehe in ihre dunkelbraunen Augen, während ich gerade vermutlich etwas rot anlaufe. Doch schon im nächsten Augenblick vergeht mir das Lächeln, als ich an die noch nicht verheilten Schnitte denken muss und ich ziehe meinen Arm weg.-"Alles gut? Ich meine, ich hätte Sie vorher fragen sollen, ob ich Sie anfassen darf", meint die Professorin und sofort schäme ich mich wieder. "Ähm... Nein, alles gut... Und... S-Sie dürfen mich anfassen...", beginne ich stotternd und plötzlich wird die Angst, dass sie die Verletzungen irgendwie entdecken könnte, riesig. Ich passe für sie vermutlich sowieso schon in das Klischee einer komplett hoffnungslosen Verlierin, die sich selbst das Leben schwer macht und immer mehr im die Dunkelheit stürzt. Da würde Selbstverletzung noch perfekt mit hineinpassen, oder etwa nicht? Außerdem würde sie mir dann wahrscheinlich wirklich damit drohen, dass ich vielleicht mal in eine Klinik sollte. Auf keinen Fall werde ich nochmal an einen solchen Ort gehen, denn es war die Hölle. Auch, wenn es mittlerweile schon fast fünf Jahre her ist, dass ich dort gewesen bin. Aber nochmal ertragen und mitmachen könnte ich das Ganze nicht.
"Ich muss jetzt auch echt wieder los, tut mir leid, Prof. Dr. Taghavi", sage ich hastig und spüre, wie meine Hände extrem stark zittern. Mein Gegenüber sieht mich erst ein wenig verwirrt und vorwurfsvoll an und dann wird ihr Blick weicher und verständnisvoller. "In Ordnung... Denken Sie bitte daran, dass Sie gerne ein bisschen mehr Selbstvertrauen haben könnten... Das würde Ihnen glaube ich sehr gut tun", lächelt Prof. Dr. Taghavi, bevor ich das Büro verlasse und mir sofort etwas wärmer wird, als ich die Tür hinter mir schließe. Auch, wenn immer noch die Reste der nicht ganz weggewischten Tränen auf meinen Wangen sind und meine Hände wegen der Angst davor, dass sie meine Schnitte gesehen oder gespürt hat, total zittern, muss ich aus irgendeinem Grund total lächeln, als ich den Flur entlanggehe. Ich denke an ihre Worte - ja, auch an die kaltherzigen Worte, die mich zum Weinen brachten und kurz den Selbsthass in mir lodern ließen. Aber vor allem denke ich daran, wie sie sich fast sofort bei mir entschuldigt hat, obwohl das eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre oder sie es hätte tun müssen. Ich will schließlich keinesfalls wie eine Person wirken, die sich mit Tränen und dramatischem Verhalten die Sympathie von jedem Menschen erschleichen kann. Aber irgendwie habe ich doch genau das in diesem Fall eigentlich getan, oder nicht?

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Andromeda
Romansa-PAUSIERT- Aimée ist schon immer eher introvertiert und sensibel, konnte sich nur schwer an neue Lebensumstände anpassen und ist von vielen Dingen überfordert. Trotzdem beginnt sie nun, mit 20 Jahren, ein Physikstudium an einer Universität in Berlin...