𝑲𝑨𝑷𝑰𝑻𝑬𝑳 𝟔

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Liria

Ich folge Amania durch den Wald. Es ist zwar Nacht, doch da wir keine Zeit verlieren wollen, reisen wir weiter. Alivas allerbeste Freundin schlägt einen Ast zur Seite, um mich zuerst durchzulassen, ehe sie selbst neben mir zum stehen kommt. Wir sind unterwegs nach Ravacyn, welches man auch die »Stadt der Sternenlichter« nennt, um dort auf Alivas und meine anderen Freunde zu warten, da Amania ihnen begegnet ist und herausgefunden hat, dass auch Aliva, Dylan, Samira und Kieran dorthin unterwegs sind. Sie, und nun auch Amania und ich, hoffen, dass sich dort Alivas leibliche Mutter Alessa aufhält.
Ich bin sehr froh, dass ich mit Amania unterwegs bin, denn vorher war ich eine Dienerin in Nymerias Talentschule und im Clan der Geheimnisvollen Blüten.
»He, Liria«, holt mich Amania aus meinen Gedanken zurück. »Wo bist du denn mit deinen Gedanken?«
»W-was? W-was ist, Amania?«, frage ich zerstreut.
Amania seufzt. »Ich habe dich soeben gefragt, weshalb du weiterhin stehen bleibst und nicht weitergehst. Wo bist du mit deinen Gedanken?«, wiederholt sie sich.
»Ist ja schon gut«, sage ich und hebe die Hände, um zu kapitulieren. »Gehen wir weiter.«
»Du unterwirfst dich mir?«, fragt Amania schmunzelnd und hebt eine Augenbraue.
»Wenn es sein muss, dann ja«, antworte ich ernsthaft.
»Aber, Amania?«
»Ja?«
»Was bist du?«
»Wie meinst du das?«, fragt sie neugierig.
»Zu welchem Clan gehörst du? Du hast es mir noch nicht gesagt.«
»Ich bin eine Elementbändigerin«, meint sie ruhig.
»Willst du wohl mehr über mich wissen?«
Ich lasse mich ins Gras sinken und nicke. »Wenn ich schon mit Alivas allerbester Freundin zur Stadt der Sternenlichter reise, will ich sie besser kennenlernen.«
Diese lässt sich mir gegenüber auf einen Baumstamm sinken. »Aye, aber in einem liegst du richtig: Meine Geschichte sollten wir nicht im Gehen durchgehen.«
»Also, Amania«, meine ich lächelnd, wische mir mein kurzes und dunkles Haar aus der Stirn und sehe mein Gegenüber aufmerksam an. Dabei funkeln meine saphirblauen Augen. »Erzähle mir deine Geschichte.«
Amania bindet sich schnell ihre dunkelblonden, langen und glatten Haare nach hinten und räuspert sich, bevor sie zu erzählen beginnt: »Ich bin, so laut meiner Zieheltern, genau in der Stadt geboren, zu der wir unterwegs sind. In Ravacyn. Und auch in der gleichnamigen Hauptstadt. Und aye, auch meine Eltern sind, beziehungsweise waren nicht meine richtigen Eltern. Doch dieses Geheimnis war nicht einmal Alivas Ziehgroßvater bekannt. Meine Zieheltern starben, als ich zehn Jahre alt war. Dann fing ich an, mich alleine durch mein Leben zu schlagen, da ich mir meine Zieheltern alles beigebracht hatten, was ich wissen musste, um mich irgendwann einmal selbst versorgen zu können. Jedoch weiß auch ich nicht, wer meine leiblichen Eltern sind und ob auch sie noch leben. Mit dreizehn Jahren wurde ich schließlich an der Talentschule von Ashina aufgenommen, da ich derzeit dort in dem Dorf Rhaenyra gewohnt habe...«
»Du wohnst immer noch dort?«, unterbreche ich sie.
»Aye, doch lass mich bitte mit der fortfahren. Wie jeder Schüler es tun muss, musste auch ich die Prüfung absolvieren, aus der hervorgeht, in welchen der fünf Clans man kommt. In den Seelenjäger-, den Element-, den Heilkunst-Clan, den Clan der Geheimnisvollen Blüten und den der Magischen Steine. Wie du jetzt weißt, wurde ich im Element-Clan aufgenommen. Zwar fand ich keine Freunde in der Talentschule, doch ich schrieb Aliva, die ich im Alter von acht Jahren kennenlernte, regelmäßig. Natürlich schrieb ich nicht darüber, wo ich war, was ich unternahm und was ich tat, da, wie du ja sicherlich von Aliva weißt, ihre Ziehgroßeltern nicht wollten, dass meine Freundin irgendetwas von der Magie, den Talentschulen und alles, was mit diesen beiden Dingen zu tun hat, erfuhr. Stattdessen erfand ich immer lustige und abenteuerliche Geschichten für meine Freundin Aliva. Sie liebte meine Geschichte, die ich ihr in meinen Briefen erzählte. Aber bevor du fragst, ich weiß nicht, warum die anderen Schüler aus meinem und den anderen Clans kein Interesse an mir gehabt haben. Vermutlich liegt es daran, dass ich mich allein durch mein Leben kämpfe. Denn unglücklicherweise wusste die ganze Talentschule um mein Schicksal.«
»Und weiter?«, frage ich.
»Als dann Aliva von den ganzen Geheimnissen erfuhr, die Helion und ich vor ihr geheim hielten...« Sie seufzte. »Es hat mich ziemlich fertig gemacht, dass wir das all die Jahre verheimlicht haben.«
Ich lege die Stirn in Falten. »Helion«, sage ich langsam. »Zwar habe ich ihn nur kurz kennen gelernt, weil ich nicht für die Kerker zuständig bin, aber er schien mir ein sehr liebevoller und freundlicher Mensch zu sein. Warum hast du ihm nie erzählt, dass auch du eigentlich ein Mädchen ohne leibliche Eltern bist?«
Alivas allerbeste Freundin seufzt erneut, ehe sie antwortet: »Helion wusste schon, dass ich mich allein durch mein Leben kämpfe. Da musste er nicht auch noch erfahren, dass ich gar nicht das wahre Kind meiner Eltern bin.«
»Ich verstehe«, meine ich. »Und hast du vor deine leibliche Familie zu suchen?«
»Ich weiß es nicht, ob ich es überhaupt will«, antwortet Amania mit ein wenig Bitterkeit, in ihrer Stimme.
»Natürlich willst du«, erwidere ich bestimmt. »Selbst Aliva will nach ihrer leiblichen Familie suchen. Also warum solltest du es nicht wollen?«
»Weil ich mich mittlerweile damit abgefunden habe«, antwortet Amania ruhig.
Unwillkürlich muss ich an meine ältere Schwester denken. Ich habe mich zwar damit abgefunden, dass sie mich zutiefst verabscheut, aber ich hoffe dennoch, dass sie sich irgendwann wieder mit mir versöhnen wird. Aber so, wie ich sie kenne, wird das nie passieren. Und das stimmt mich traurig.
»Liria?«, fragt Amania vorsichtig. »Ist alles in Ordnung?«
Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ja, es ist alles in Ordnung. Ich musste nur gerade an meine ältere Schwester denken.«
»Du hast eine ältere Schwester?«, fragt Amania interessiert und ich stöhne innerlich. Götter, warum das? Meine Schwester ist ein Thema, über das ich nie sprechen möchte, weil es mir zu viele Schmerzen bereitet. Also warum muss ausgerechnet Alivas allerbeste Freundin, mich diesem Thema wieder näher bringen?
»Ja, ich habe eine ältere Schwester«, meine ich traurig.
»Warum so traurig, Liria?«, fragt Amania mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Ist es nicht schön, eine Schwester zu haben?«
Wieder stöhne ich auf. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sage ich verzweifelt.
»Und wie ist es dann?«
»Meine Schwester ist wie eine aggressive Python«, kläre ich Amania auf. »Genau wie ich, besitzt sie keine Magie und ist daher auch eine Magielose.«
»Und welcher Talentschule dient deine Schwester?«
»Sie dient der Talentschule von Lorath«, presse ich hervor.
»Und warum nennst du sie eine aggressive Python? Was hat sie denn getan?«
»Das«, presse ich erneut hervor, »wird, zumindest vorerst, mein Geheimnis bleiben.«
»In Ordnung«, sagt Amania und erhebt sich. »Bist du zum weiterreisen bereit?«

𝓖𝓮𝓱𝓮𝓲𝓶𝓷𝓲𝓼𝓿𝓸𝓵𝓵𝓮 𝓑𝓵𝓾̈𝓽𝓮 𝟑 - 𝓓𝓲𝓮 𝓢𝓽𝓪𝓭𝓽 𝓭𝓮𝓻...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt