𝕶apitel Elf

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𝕴ch treffe erst beim Spätmahl wieder auf meine Mitbewohnerin.

Madelina und ich kommen bereits als einige der ersten in den Bankettsaal und haben dadurch freie Platzwahl und können uns am Buffet Zeit lassen. Von unserem bereits gewohnten Tisch beobachte ich wie immer mehr Schüler eintreffen und der Bankettsaal sich nach und nach füllt.

Mein Teller steht unangerührt vor mir, die Nudeln sicherlich bereits kalt geworden, doch ich mache nicht einmal Anstalten, meine Gabel überhaupt in die Hand zu nehmen.

Mit mehr als der Hälfte des Lehrsommers anwesend, bilden sich nun nach und nach einzelne Untergruppen heraus. Nilas und Cosmo, stets Seite an Seite, sitzen gemeinsam mit Pax unweit unseres Tisches, bis sich Vanelope, Pira und die hellhaarige Dajana zu ihnen gesellen.

Eine weitere Gruppe von erst heute eingetroffenen Mädchen sitzen an einem der langen Tische, Harris und Nevaehs Bruder Tobin etwas entfernt am selbigen.

Meine Cousine macht einen ersten Auftritt würdig ihrer Position. Flankiert von zwei beinahe identischen Mädchen kommt sie geradezu modisch spät, die meisten Schüler wie Professores bereits essend an den Tischen.

Nicht wenige Blicke richten sich auf sie. Lucielle ist das Objekt von Faszination unter den Schülern; wie ein Eindringling in ihrer Mitte. Die zurückgezogene Zarevi von Amylas und Nichte des Imperialen Prinzen und somit der Imperal selbst.

Madelina mag vielleicht denselben Titel besitzen, doch bereits die wenigen Tage meines bisherigen Aufenthalts haben mir vor Augen geführt, wie sehr sie hier einfach eine der vielen ist.

Die braunhaarigen Neven-Schwestern an ihrer Seite werden sichtbar unwohl bei den auf sie gerichteten Blicken. Lucielle dagegen scheint sie nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Oder sie weigert sich schlicht, Kenntnis von dem Trubel um ihre Gestalt zu nehmen.

Erleichterung durchströmt mich mit unerwarteter Heftigkeit. Den Schwestern sei gedankt, dass ich nicht durch dieses Szenario muss. Es wäre tausend Male schlimmer.

Es ist Tobin, der als Erster die Aufmerksamkeit von Lucielle und ihrer Entourage abwendet, indem er die drei mit einem Lächeln und auffordernden Winken einlädt, sich zu ihm und Harris zu setzen. Die Nevens flüstern unbemerkt miteinander, folgen Lucielle nichtsdestoweniger, als diese sich ihren Weg vom Buffet zu den beiden Jungen bahnt.

Es kommt mir der Gedanke, dass diese drei ebenfalls Cousinen sind. Familienbande von Lucielles mütterlicher Seite, welche die Vertrautheit zwischen Lucielle und Kailee und Hailee erklären.

Nach und nach ebbt das Interesse wieder ab, vergeht das Hoch der Sensation, bis die normale Atmosphäre von Mahlzeiten im Bankettsaal eintritt. Der Inhalt meines Tellers hat sich nicht sonderlich verringert, als einige Zeit später sich ein zierliches Mädchen schwungvoll neben Madelina niederlässt.

»Was habe ich alles in Prilias verpasst?«

Madelinas erschrockenes Gesicht wechselt zu einem erfreuen Ausdruck innerhalb weniger Momente und sie zieht die andere in eine Umarmung. Zweifellos unsere vierte Mitbewohnerin.

Innerhalb kürzester Zeit habe ich auch diese Vorstellungen hinter mich gebracht und kann damit fortfahren, in meinem Essen herumstochern, während ich den Gesprächen am Tisch und um mich herum lausche.

»Wie war deine Anreise, Jela? Du hast uns gar keine Vorwarnung von deiner Ankunft geschrieben.«, fragt Faolan zwischen zwei Bissen.

»Oh, ja! Ich bin überhaupt nicht dazu gekommen. Wir machen ja immer einen Halt in Jamesin und es war dieses Mal einfach irre! Die ganze Stadt hat nur von der Imperix gesprochen. Was für eine Tragödie.«

Die Erwähnung meines Titels, nicht etwa auf mich sondern auf meine Schwester bezogen, schreckt mich aus meiner Lethargie auf.

»Ja...« Faolans Antwort klingt mehr als nur zögerlich, und geht dennoch zu schnell zwischen Madelinas und Désirées lautstark geteilten Meinung unter.

»Sie war unser Alter. Es ist unvorstellbar, dass sie einfach verstorben ist! Und ihre Schwester erst! Wie muss es sich wohl anfühlen, seinen Zwilling zu verlieren?« Désirée beabsichtigt nicht, Schmerz oder Schaden zuzufügen, trotzdem kann ich nicht länger am Tisch sitzen bleiben. Keiner der vier registriert, wie ich aufstehe und den Bankettsaal verlasse.

Nur Azarels Blick folgt mir, stumm und undurchdringlich wie immer.

Die Tränen kommen in der einsamen Stille meines Zimmers. Mit dem Rücken an der geschlossenen Tür, rutsche ich am Holz entlang, bis ich auf dem Boden sitze.

Ich habe meine Tränen um Elodie vor Jahren vergoßen, den Schmerz tief in mir vergraben, bis nur noch ein dumpfes Gefühl der Leere zurückblieb. Und jetzt reißt die alte Wunde erneut auf, sogar tiefer und gravierender als zuvor.

Manche Wunden heilen nie.

—⋄—

Tage fliegen bei. Weitere Schüler treffen ein, und nach und nach zeichnen sich die Gewohnheiten in den Tagesabläufen der Akademie ab. Ein geistiger Grundriss des Schlosses inklusiver vieler Geheimgänge und Abkürzungen verfestigt sich in meinem Kopf, nachdem ich nach und nach die Akademie auch alleine immer weiter erkunde.

Je mehr Zeit ich herumstreife, desto weniger Zeit muss ich in meinem Zimmer verbringen, wo die Stimmung mit Lucielle noch immer so angespannt wie am ersten Tag ist.

Mindestens einmal am Tag frage ich mich, ob es wohl anders gelaufen wäre, wenn es keine Geheimnisse gäbe, die zwischen mir und beinahe jedem anderen hier stehen. Doch in jedem solchen Szenario wäre Elodie an meiner Seite.

Stattdessen verbleibe ich in dem Kreis in den Madelina mich am allerersten Tag hineingezogen hat, und beobachte aus dem Schatten des Baumes wie Lucielle im Schein der Sonne mit ihrer ständigen Entourage der Neven-Schwestern und Tobin und Harris über den Innenhof flaniert.

Cassidy hat mein Geheimnis für sich behalten. Bis auf eine kurze Notiz, die ich an jenem Tag unter meinem Kopfkissen gefunden habe, höre ich nichts weder von ihm noch von meiner Familie. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich vollkommen abgeschnitten von allem Vertrauten - und dennoch gleichzeitig inmitten anderer.

Während des Frühmahls erhebt sich auf dem Podest der Professores der Maestro und begrüßt alle zum Anfang des neuen Akademiejahres. Ich habe den Leiter der Akademie bisher nicht wirklich zu Gesicht bekommen, aus den Berichten der anderen jedoch entnommen, dass er ein beliebter Professore sei.

Spätestens mit Beginn der Lektionen werde ich mir meine eigene Meinung darüber bilden können.

Chroniken der Götter - Das Vermächtnis des KristallsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt