𝕶apitel Neun

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𝕯en nächsten Tag verbringt Madelina - die mich am Abend zuvor gebeten hat, sie einfach Madie wie die anderen zu nennen - damit, mir das weiße Schloss und das umliegende Gelände zu zeigen. Wäre ich nicht selbst in einem leibhaftigen Palast aufgewachsen, weit größer als die Akademie, so würde ich mich vermutlich hier nicht sofort zurechtfinden. Aber ich bin im Palast aufgewachsen, habe mir meine viele freie Zeit damit vertrieben, jedes einzelne Zimmer, jeden Saal  und Flur und jeden geheimen Gang innerhalb der dicken Palastwände zu erkunden.

So fällt es mir mehr als nur leicht, mir den Aufbau des Schlosses einzuprägen.

Und als mir Madelina wie zuvor versprochen zeigt, welche Geheimnisse innerhalb der Mauern dieses Schlosses sich verbergen, steht fest, dass ich in nächster Zeit auch auf einige Erkundungen alleine gehen würde.

Zuletzt verlassen wir das Schloss und sie zeigt mir erst das Theatra, eine Freilichtbühne umrundet von Reihen steinerner Sitze, und anschließend die daneben gelegene Arena mit ihrem weissen Sandplatz und der Rüstungskammer voller Waffen.

Die restliche Zeit bis zum Sonnmahl gehen wir am Strand entlang der Bucht, die bereits jetzt am Ende des Winters eine geradezu ästhetische Schönheit aufweist, laut Madelina jedoch sowohl im Sommer als auch von Schnee bedeckt noch atemberaubender ist.

Von der Bucht zurück zum Schloss nehmen wir einen ausgetretenen Pfad entlang des Waldes. Madelinas und meine Schuhabdrücke im lehmigen Untergrund des Pfades machen mich nachdenklich.

Wie viele Schüler vor uns wohl schon hier entlang gegangen sind? Wer sie wohl waren?

Es ist ein faszinierendes Gedankenspiel, sich zu überlegen, wie der Alltag meiner Vorfahren auf der Insel ausgesehen haben mag. Wie lebte Cilia de Víra, bevor sie jene Taten vollbrachte, die sie weit über ihren Tod hinaus berühmt machten. Hätte sie sich jemals vorstellen können, dass sie mit nur siebzehn Jahren über ein ganzes Imperium, den halben Kontinent, herrschen würde? Ich kann es nicht, auch wenn ich im Gegensatz zu meiner Vorfahrin weiß, dass es eines Tages so kommen wird.

Madelinas erschrockener Aufschrei bringt mich ruckartig zurück in die Realität.

»Bei den Göttern, Faolan!«, schimpft sie einen Moment später, als die schattenhafte Bewegung im Gebüsch neben uns sich als Faolan herausstellt.

»Mach das gefälligst nie wieder, hörst du!« Madelina boxt ihm gegen die Brust.

»Au, Madie, das hat wehgetan!«, beschwert Faolan sich sogleich und reibt sich über die Stelle.

Madelina verengt nur die Augen und wendet sich anschließend beinahe hochnäsig ab. Ich muss beinahe grinsen, denn zum ersten Mal sieht man ihr hier ihre Herkunft an.

Faolan fährt sich etwas verlegen durch die verwuschelten braunen Haare und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.

»Tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe.«, sagt er mit zerknirschten Gesichtsausdruck laut genug, dass es Madelina ebenfalls hört, und blickt dennoch weiterhin nur mich an.

»Schon in Ordnung.«, entgegne ich und schlucke leicht.

»Was hast du hier draußen überhaupt gemacht?« Bei meiner Frage dreht sich Madelina wieder zu uns um, Neugierde in ihren veilchenfarbenen Augen glitzernd.

»Spazieren.«, kommt es wie vom Bogen geschossen von ihm. Zu schnell für meinen Geschmack. Dann aber muss ich mir ein Schmunzeln verkneifen, als ich Faolan einer genaueren Untersuchung unterziehe.

»Du hast einen Zweig im Haar.«, teile ich ihm mit. Während er sofort hektisch in seinen Locken herum tastet, hält Madelina ihre Amüsiertheit weniger unter Verschluss als ich.

Chroniken der Götter - Das Vermächtnis des KristallsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt