Brief an einen Gefangenen

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Nein, es war nicht für sie auszuhalten gewesen.
Seufzend blickte Hermine sich in der immer noch fast leeren Wohnung um.
Sie hatte einfach nicht bleiben können im Fuchsbau. Sie hatte das Gefühl, nicht atmen zu können. Daher hatte sie nur Freds Beisetzung abgewartet, ehe sie verkündet hatte, dass sie sich etwas eigenes suchen würde.
Ihre Eltern hatten glücklicherweise von Geburt an regelmäßig für sie gespart, und ein Teil des Geldes tauschte sie bei Gringotts und ließ es auch von den Kobolden anlegen, und außerdem bekam sie, Kriegsheldin die sie war, auch eine Abfindung vom Ministerium.
Sie mietete sich also eine kleine Wohnung in einer Seitenstraße der Winkelgasse, im Erdgeschoss und sogar mit einer hübschen Terrasse und einer winzigen Rasenfläche.
Sie würde nicht ewig hier wohnen, aber für den Übergang war es mehr als genug.
Es hatte leider zu einer ziemlich unangenehmen Situation geführt, als sie verkündete, dass sie ausziehen würde.
Sie sprach zuerst mit Harry und Ron darüber, und Ron ging leider vollkommen selbstverständlich davon aus, dass sie plante, mit ihm zusammen die Wohnung zu nehmen.
Als klar wurde, dass sie das nicht beabsichtigte, war Ron – und Hermine konnte es sogar verstehen – zutiefst gekränkt.
Sie verstand selbst nicht, was mit ihr los war. Sie war so lange in Ron verliebt gewesen und nun, da sie zueinander gefunden hatten... fühlte sie eine merkwürdige Distanz.
Zweimal hatten sie sich im Fuchsbau geküsst, beide Male war es von Ron ausgegangen. Und beide Male hatte Hermine es recht schnell beendet.
Die Diskussion wegen der Wohnung war lang und müßig und mit lauten Worten und sogar ein paar vereinzelten Tränen verbunden. Sie kamen von der Wohnung zu Hermines offensichtlichem Unwillen, Ron zu küssen bis hin zu der Tatsache, dass sie es ständig sogar vermeiden wollte, über die Beziehung zu sprechen.
Das Ende des ganzen war, dass Ron verkündete, dass es wohl das Beste sei, wenn sie die Beziehung vorerst auf Eis legen würden.
Hier war sie also nun, alleine in einer fast leeren Wohnung, und versuchte, irgendwie ein Leben aufzubauen nach einem Krieg, in den sie viel zu jung hineingezogen worden war.
Kaum, dass sie die Wohnung bezogen hatte, hatte sie das getan, was Narzissa Malfoy ihr geraten hatte: Sie hatte einen Brief verfasst, den sie über das Ministerium nach Askaban schickte.
Sie hatte ewig über einem leeren Stück Pergament gebrütet, aber als sie dann endlich zu schreiben begonnen hatte, konnte sie fast nicht mehr damit aufhören.
Sie las sich den Brief danach bewusst nicht noch einmal durch, sondern schob ihn gefaltet in den dafür vorgesehenen Umschlag und versiegelte diesen rasch.
Fünf Seiten.
Sie hatte fünf Seiten an Draco Malfoy geschrieben.
Zwei Pergamentseiten, bei denen Vor- und Rückseite beschrieben war und ein weiteres Pergament, bei dem die Vorderseite gereicht hatte.
Sie hatte darin so viele Dinge angesprochen – seine Rettung und ihre Dankbarkeit deswegen, ihre gemeinsame Schulzeit und dass sie eines Tages vielleicht gerne einmal darüber mit ihm sprechen würde, denn sie waren Kinder gewesen und hatten alle Fehler gemacht, seinen Prozess und dass sie ihm dafür Glück wünschte und sich sicher war, dass zu seinen Gunsten entschieden werden würde. Sie sprach ihm Mut zu und hoffte, dass ihre Worte ihm Kraft gaben. Sie schrieb außerdem, dass sie es bedauern würde, ihn nicht besuchen und sich persönlich bedanken zu können, dass sie das aber sicher irgendwann nachholen konnte.
Kurz hatte sie auch überlegt, seine Mutter zu erwähnen, aber sie wusste nicht, ob dies Narzissa Malfoy recht war, daher ließ sie es.
Niemals hätte sie gedacht, dass sie jemals einen so emotionalen Brief an Draco Malfoy schreiben würde.
Und ja, auch wenn sie es sich zuerst nicht eingestehen wollte – sie hatte unbewusst eine Reaktion erwartet. Eine Reaktion erhofft.
Aber es kam keine.
Tagelang wartete sie auf einen Brief.
Zuerst dachte sie, es würde einfach dauern, weil es über das Ministerium lief und somit einen Umweg nahm.
Dann dachte sie, dass er vielleicht etwas Zeit brauchte, um eine Antwort zu formulieren.
Schließlich kam die Sorge, dass er keine Möglichkeit hatte, zu antworten. Dass es ihm vielleicht sogar verboten worden war.
Und zuletzt überlegte sie, ob ihr Brief vielleicht sogar niemals angekommen war.
Sie verschlang jeden Zeitungsartikel, der über Dracos Prozess erschien.
Hermine wusste selbst nicht, warum sie sich so in die Sache hinein steigerte, aber Dracos rauchgraue Augen gingen ihr einfach nicht aus dem Kopf. Und auch seine Worte nicht. Er hatte sie nicht nur geheilt, sondern hatte ihr auch danach noch helfen wollen.
Allerdings kam einfach keine Reaktion auf ihren Brief.
Das einzige, was sie bekam, war eine Vorladung als Zeugin für den Prozess Malfoy, der erst in über drei Wochen stattfinden sollte.
Wollte man Draco tatsächlich noch so lange in einer Zelle in Askaban sitzen lassen?
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und sandte eine Eule mit einer kurzen Notiz an Narzissa Malfoy.




Mrs Malfoys Antwort kam sogar noch am selben Tag.
Ja, sie sei sich sicher, dass Briefe nach Askaban weitergeleitet wurden. Sie sei dankbar, dass Hermine einen Brief an Draco verfasst habe. Ja, sie habe ihm und ihrem Mann ebenfalls geschrieben und Antworten erhalten. Von ihrem Sohn allerdings nur eine sehr knappe Notiz. Vielleicht sei er nicht in der Verfassung, zu antworten? Hermine solle sich keine Gedanken machen. Ihre Entscheidung sei richtig gewesen, Draco zu schreiben.
Ein Absatz allerdings ließ Hermine das Herz stolpern.
„Hermine, ich bin allerdings sehr glücklich, dass Sie sich erneut gemeldet haben. Ich muss gestehen, dass ich mich in meiner Not sowieso an Sie wenden wollte. Ich weiß, Sie schulden mir nichts, im Gegenteil. Ich kann nur als Bittstellerin auf Ihr offenes Ohr hoffen. Vielleicht haben Sie dem aktuellen Tagespropheten entnommen, dass die Beweislage sowohl für meinen Gatten als auch für meinen Sohn erdrückend ist. Derzeit steht eine Haftstrafe für beide den Gerüchten nach wohl außer Frage. Ich habe gelesen, dass Sie als Zeugin geladen wurden. Ich hoffe so sehr auf Ihr Wohlwollen bei Ihrer Aussage.“
Hermine war plötzlich sehr froh, direkt neben der Winkelgasse zu wohnen.
Gerade heute hatte sie sich noch keinen Propheten gekauft!
Sie beeilte sich, in die Winkelgasse zu kommen und war erleichtert, als sie sah, dass noch aktuelle Exemplare des Propheten zu haben waren.
Nachdem sie ein Exemplar gekauft hatte, setzte sie sich in Fortescues Eissalon und las den Artikel.
Zumindest wollte sie ihn lesen – aber das Foto von Draco auf der Titelseite hielt sie davon ab.
Es war offensichtlich das Foto, was bei seiner Aufnahme in Askaban gemacht wurde und er bot einen befremdlichen Anblick in der gestreiften Sträflingskleidung.
Und er sah erschöpft und verängstigt aus.
Nein, es fühlte sich einfach falsch an.
Er hatte keine Haftstrafe verdient.


„Hermine, wir sind das ganze jetzt doch schon zehnmal durchgegangen.“
Harry legte erschöpft den Kopf in den Nacken, nahm seine Brille ab und massierte seine Nasenwurzel.
„Nicht, dass wir doch etwas übersehen haben“, konterte Hermine.
Sie hatte Bücher gewälzt und schon dutzende Zeugenaussagen für sich selbst und Harry verfasst – Ron weigerte sich, bei dieser Arbeit mitzumachen – und sie wurde nicht müde, diese auszubessern.
„Der Prozess ist erst in gut zwei Wochen“, jammerte Harry verzweifelt. „Wir können es doch die Tage noch einmal durchgehen.“
„Jetzt sind wir doch gerade dabei. Außerdem gibt es noch so viel Literatur, die ich dazu ausleihen und lesen muss. Ich muss sagen, das Rechtssystem in dieser Welt unterscheidet sich doch in so vielen Punkten von dem der Muggelwelt. Und viele Aspekte sind einfach regelrecht mittelalterlich.“
Harry stöhnte, schien sich seinem Schicksal aber zu fügen.
Gerade, als sie wieder in die Schriften vertieft waren, hörte Hermine ein leises Klopfen an der Fensterscheibe.
Wie immer, seit dem sie Draco einen Brief geschrieben hatte, setzte ihr Herz einen Schlag aus bei dem Geräusch.
Aber ein einziger Blick zum Fenster zeigte ihr, dass der Schreck unbegründet war.
Sie kannte die Eule, wunderte sich allerdings, warum sie ihr schon wieder Post brachte.
Nachdem sie den Brief an sich genommen hatte, öffnete sie ihn sofort.
Mrs Malfoy hatte einen kurzen Brief verfasst.
Hermine hatte ihr kürzlich mitgeteilt, dass sie intensiv an einer Zeugenaussage arbeitete. Dies war wohl ihr Reaktion darauf.
„Hermine“, stand da in dem Brief. „Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie sich so intensiv mit der Sache beschäftigen. Ich blicke dem Tag der Verhandlung nun mit mehr Hoffnung entgegen. Seien Sie sich gewiss, dass ich diese freundliche Geste Ihrerseits niemals vergessen werde. Meine Dankbarkeit ist Ihnen sicher. Sollte ich Ihnen jemals helfen oder dazu beitragen können, Sie in irgendeiner Form zu unterstützen, lassen Sie es mich bitte wissen. N. Malfoy“
Der Brief war zwar äußert formell und fast ein wenig steif formuliert, aber Hermine war sich sicher: Narzissa Malfoy meinte, was sie schrieb.
Sie hatte Mrs Malfoys Loyalität gewonnen.

Those Eyes (Dramione Short Story) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt