Es ist so früh, dass die Welt noch so verschlafen wirkt, dass ich auch am liebsten wieder ins Bett gehen würde. Gleichzeitig ist ein anderer Teil von mir total aufgeregt, wie die Vögel, die schon wach sind und fleißig um die Wette zwitschern. Die ersten Sonnenstrahlen kitzeln die Baumkronen und ich reibe mir die Müdigkeit aus den Augen.
Papa, Kerstin und ich haben graue Einheitskleidung vom Regime an. Sie zeigt damit nicht nur die Zugehörigkeit, sondern hat eigentlich noch eine viel wichtigere Rolle. Die Kleidung ist ein Statussymbol. Je nach Anzahl der Punkten bekommt man als Bewohner andere Kleidung. Punkte ist die Währung - je mehr man arbeitet und systemtreuer man ist, desto mehr kann man in der Freizeit mit diesen Punkten machen, was anderen verwehrt bleibt.
Ab einer bestimmten Punktezahl bessere Kleidung verordnet und es gibt zwar keine Pflicht, diese dann auch wirklich anzuziehen, allerdings kann bessere Kleidung einem sehr schnell einen Vorteil im Alltagsleben verschaffen. Kürzeres Anstehen im Restaurant, kein Stress mit Polizei, keine Diskussionen bei Kinobesuchen. Das Beste sind Anzug oder Abendkleid. Wenn man also ein solches zugeschickt bekommt, sollte man sich auf die Schulter klopfen. »Gratulation, ich bin zu einem Vorzeige-Systemarschkriecher geworden.«
Ganz konform der mittleren Schicht tragen wir graue Stoffhose mit grauem Oberteil. Optional hätten wir auch einen Rock anziehen können, aber Hosen sind nun mal bequemer. Wahrscheinlich ist die Wahl, Rock oder Hose zu tragen die einzige Form von Anflügen eines politischen Statement, welches einem erlaubt ist.
Immer mehr wird mir mit bewusst, dass ich heute wirklich die Stadt mit eigenen Augen sehen werde und meine Müdigkeit verfliegt mit diesen Gedanken.
Mein Herz schlägt schneller und ich bin wahnsinnig nervös. Noch nie habe ich etwas anderes als Natur um mich gehabt. Schon in diesem grauen Betontunnel habe ich gemerkt, wie beengend das fehlende Grüne sein kann. Wie wird es wohl in der Stadt sein? Und wie werden die Menschen sein?
Früher hat Mama uns das alte Buch »Momo« vorgelesen und uns erklärt, dass die Bewohner der Stadt wie die grauen Männer sind. Und dass dort leider niemand mehr übrig ist, der Zeit hat. Sich nicht hetzt und wirklich nur lebt. Denn selbst wenn man genügend Punkte für Freizeitaktivitäten hat, so ist es in einen Zeitplan eingegliedert.
Die ganze Familie hat sich mit uns am Rand vom Dorf versammelt. Mir kommt es albern vor, dass wir uns alle umarmen. Es werden doch nur zwei Tage sein! Trotzdem fühlt es eher wie ein Aufbruch in eine unbekannte Welt auf unbekannte Zeit an.
»Denk dran, meine Kleine«, sagt Mama, während sie mich ganz doll drückt. »Bau keinen Scheiß. Ich will dich heil wieder zurück haben.«
»Du wiederholst dich.«
Opa steht auch da und ich schaue ihn ratlos an, als ich mich wieder von Mama löse. Soll ich ihn auch umarmen? Aber dann würde ich ihm ja so nah kommen. Würde er das okay finden? Wir haben uns lang nicht umarmt. Doch heute ist sein Blick nicht abwesend, wie er sonst immer ist. Opa schaut mich an, wirklich mich und nicht den Baum hinter mir. Also springe ich über meinen Schatten und schließe ihn in eine warme Umarmung. Ein bisschen seltsam ist das Gefühl schon, aber gleichzeitig auch wahnsinnig vertraut.
DU LIEST GERADE
Ein Augenblick der Zeit
Science Fictionpausiert | wird überarbeitet | demnächst Tanz, Musik, Leidenschaft, Einzigartigkeit. Für Lavita sind diese Worte aus ihrem Leben nicht wegzudenken. Doch der Preis dafür ist hoch. Das unabhängige, freie Leben ist nur deswegen möglich, weil sie zu ei...