Kapitel 21

815 40 2
                                    

"Ach Lydia lass mich aus deinen Dramen raus!", schrie ich sie an, während ich sie aus meiner Hütte verjagte. Die Bitch sollte mich bloss in Ruhe lassen! Auf hundertachzig rannte ich hinaus, setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr ins danebenliegende Dorf.

Da gab es eine Kreuzung, in die ich einbog und schon fuhr ich am Strand des Grossen Flusses zurück. Einige Minuten später fand ich wieder eine Kreuzung, ich bog ein und fuhr erst einmal über eine verlassene, alte Brücke. Immer weiter fuhr ich, als ich unter der Strasse, neben all dem Gebüsch und trotzdem noch am Fluss gelegen mein Fahrrad abstellte und mich auf die Steine absetzte. Ich war hier noch nie. Keine Menschenseele war zu sehen. Die Autos fuhren genau über meinem Kopf hinweg. Hier war ich ganz für mich allein.

Immer noch ausser Atem starrte ich auf das Wasser. Es blieb niemals stehen. Immer floss es weiter. Mein Handy stellte ich ab und ich liess mich ganz auf meine Gedanken ein. Ich dachte über Lydia nach. Wie konnte sie so eine Scheisse behaupten? Klar, er hatte mich verletzt, aber ein zweites Mal würde er es ganz sicher nicht machen. Noch ein Drittes oder Viertes Mal. So schweiften meine Gedanken von Lydia ab und flogen kurzerhand zu Andy.

Wie er sich entschuldigt hatte. Wie er vor mir weinte. Ich konnte es immer noch nicht glauben. Es war ein ganz anderer Andy, als ich kennen gelernt hatte. Er war lieb und zuverlässig. Ich beklagte mich nicht. Aber irgendwo tief in mir spürte ich, dass ich ihm noch immer nicht vollständig vertrauen konnte. Vertrauen durfte. Dafür war alles viel zu schnell gegangen.

So verlor ich mich in meinen Gedanken, ohne zu merken, dass ich weinte wie ein Kleinkind. Es tat wohl immer noch weh, was Andy mit mir angestellt hatte. Doch er hatte sich Entschuldigt. Was aber immer noch nicht alles gut gemacht hatte. Was zur Hölle war mit mir los?
Ich versuchte mich zu beruhigen und fuhr nachhause. Das musste erstmal an Nachdenken reichen. Wäre ich noch länger geblieben, wäre es dunkel geworden.

Ich wollte gerade die Haustür öffnen, als mir meine Mutter in Arbeitsuniform entgegenrannte. Hatte heute wohl eine Nachtschicht. "Hey Mom! Ich wünsch dir nen schönen Tag.", lächelte ich sie schwach an, drückte sie kurz und lief ins Haus.
Dort wartete, wie konnte es auch anders sein, Dave auf mich.

"Du hast mir noch nichts erzählt.", meinte er mit seinen Händen vor der Brust verschränkt. Ich seufzte und hatte ihn in mein Zimmer gezogen. Ich begann bei dem Moment, in dem Casey in ihrem Auto heulte und sie mir die ganze Wahrheit über Sam erzählte. Und hörte mit der Begegnung heute mit Lydia auf. Er sprach nicht dazwischen, nickte hier und da. Als ich fertig war, beobachtete ich ihn kritisch. Er lächelte. "Hätte nie gedacht, dass Samuel schwul ist. Aber auch egal. Sag mal, vertraust du Andy?" "Ja, eigentlich schon." "Na dann kann es dir doch egal sein, was Lydia erzählt. Wir wissen beide, dass sie viel Scheiss erzählt." Da hatte er zwar recht, aber er hatte sie auch nicht erlebt. Ich hatte sie davor noch nie so gesehen. So schwach. So ehrlich. Aber das konnte er nicht nachvollziehen. Er war nicht da.

"Ja, hast ja recht. Aber jetzt sag mal, wie läufts mit dir und meiner Schwester?" Augenblicklich hellte seine Miene auf und er lächelte mich an. Es war, als ob die Sonne aufging. "Alles gut." Ich grinste. "Seid ihr jetzt zusammen?" Er nickte schüchtern, was mich auflachen liess. "Ganz offiziell?", hackte ich nach. "Nein, für sie ist es noch zu früh. Ich warte, solange wie sie braucht." Das hoffte ich auch für ihn. Würde er ihr wehtun, würde er es nicht überleben. Das schwörte ich hier. "Du bist glücklich?" "Ja.", flüsterte er. Ich lächelte. Das freute mich.

Wir quatschten noch lange über Dieses und Jenes. Wir tratschten über die Mädchen unserer Schule und lachten sie mit ihrem ganzen Makeup aus. Jedoch waren die Gesprächsthemen verschieden. Wie es bei Männern halt so war.
Als sich der Abend in Nacht verwandelte, bot ich ihm an, bei uns zu schlafen. Chiara würde in einer Viertelstunde vom Volleyball zurück kommen und dann könnte er bei ihr schlafen. Immerhin müsste es unsere Mutter nicht erfahren. Sie war ja ohnehin schon selten zuhause. Dave nahm das Angebot dankend an und während Chiara nachhause kam und sich duschte, zockten wir eine Weile.

Als Chiara schliesslich bettfertig war, zog sie Dave hinter sich her. Ich wünschte ihnen eine gute Nacht und verkroch mich zurück in mein Bett. Ich zockte noch weiter. Zwar machte es mir alleine meistens keinen Spass, aber es war eine gute Ablenkung. Ich hatte die zig Nachrichten von Andy zwar erhalten, doch ich wollte sie nicht lesen. Zuerst musste ich mir sicher sein, was ihn anging. Dann erst würde ich mich ihm wieder hundertprozentig zuwenden. Aber erst musste ich herausfinden, wa sich glaubte und was nicht. Einfacher gesagt als getan.

Als es Mitternacht war, vergrub ich mich in mein Bett, spielte die Musik in meinen Kopfhörern ab und versuchte mit dem Lied Another Love von Tom Odell einzuschlafen. Doch mein Hirn spielte verrückt, begann alle Möglichen Szenarien abzuspielen. Wie immer, wenn ich eigentlich wirklich schlafen wollte.

*********************

Der Wecker ertöhnte in aller Herrgottsfrühe und mühsam versuchte ich, aufzustehen. Ich torkelte ins Badezimmer während ich mir die Augen rieb.

Ein Blick auf das Handy und ich war von jetzt auf gleich total wach. Zehn verpasste Anrufe. Alle von Andy. Zwanzig Nachrichten.

Jonah, was habe ich falsch gemacht?
Rede mit mir!
Ich vermisse dich!
Schläfst du schon?

Das waren einige Beispiele. Es gab davon noch mehrere. Bei dem Gedanken an ihn wurde mir wärmer und ich grinste. Er war so süss, wenn er sich sorgte. Aber würde er mich wirklich verarschen? Nach einigem Zögern, antwortete ich ihm schliesslich:

Hey! Sorry, hab schon gepennt. Ich war echt kaputt gestern, weshalb ich es nicht mehr zu dir geschafft habe. Sorry nochmal, dass ich dir nichts gemeldet hab. Ich hoffe, wir sehen uns Morgen?

XOXO Jonah

Maybe TomorrowWo Geschichten leben. Entdecke jetzt