11 | PETER

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Sie weiß es nicht mehr. Sie weiß es einfach nicht mehr, was gestern Abend geschehen ist.

Warum zur Hölle muss ich der einzige sein, der sich daran erinnert? An den Kuss, an ihre Berührungen, ihren Geruch, den Geschmack, den ich immer noch auf den Lippen habe? Warum kann ich es nicht auch einfach vergessen und so tun, als wäre nie etwas passiert?

Stattdessen kann ich kaum mehr an etwas anderes denken und zerfleische mich vor Selbstvorwürfen. Nicht nur, weil ich es zugelassen habe. Nein, viel schlimmer noch: Weil ich es genossen habe. Weil es sich so verdammt gut angefühlt hat. Und weil ich es am liebsten wiederholen würde.

Als ich Ivete in Bobs Zimmer allein lasse und mir die Laufschuhe anziehe, wirbeln meine Gedanken und Gefühle immer noch wie ein Tornado durch meinen Kopf. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, sondern mir nur Vorwürfe gemacht. Die Bewegung wird mir hoffentlich helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen! Ich hätte stärker sein müssen und die Kontrolle behalten müssen. Ivete stand unter Drogen. Ich hingegen war völlig klar im Kopf.

Ich erinnere mich an Saschas Worte. Dass Ivete am nächsten Tag wahrscheinlich verwirrt sein wird und einen Freund braucht. Es war nie die Rede davon, dass ich derjenige bin, der verwirrt sein würde.

Als ich das Haus verlasse und mich auf den Weg zu meiner Stammstrecke mache, beginnt sich das Band um meinen Brustkorb ein wenig zu lockern. Ich kann wieder freier atmen, jetzt, da ich etwas Abstand zwischen Ivete und mich gebracht habe. Die Schuldgefühle lasten immer noch schwer auf mir und drohen mich zu erdrücken, aber vielleicht ist Abstand genau das, was mir jetzt gut tut und mir hilft, meine Gedanken zu sortieren. Irgendwie muss ich lernen, mit Ivete umzugehen. Mit der Erinnerung. Vielleicht ist es sogar ein Segen, dass sie alles vergessen hat.

Zu den Schuldgefühlen gesellt sich ein ganz anderes Gefühl. Neid. Ich will es auch vergessen, es abhaken und nie wieder daran denken. Ich will, dass alles wieder so ist wie vor der Gala.

Doch das funktioniert leider nicht.

Die Frage ist, wie ich jetzt mit Bob umgehe. Ich habe ihn betrogen. Ganz bewusst! Denn am Ende war ich bei klarem Verstand. Er muss es unbedingt erfahren. Von mir persönlich!

Ich muss lachen.

Natürlich von mir! Von wem denn sonst? Weil sich sonst niemand erinnert.

Langsam werden meine Muskeln wärmer und die Schritte geschmeidiger. Meine Atmung passt sich meinem Rhythmus an. An einer Kreuzung muss ich einen Moment warten, und so laufe ich auf der Stelle, bis die Ampel auf Grün springt. Nach drei Blocks erreiche ich endlich den Strand und biege in die Promenade ein. Das schöne Wetter und die Sonne treiben die Menschen nach draußen und ich bin nicht der einzige, der den Strand von LA aufsucht. Aber das ist gut. Es zwingt mich, mich auf die Strecke vor mir zu konzentrieren und mit meinen Gedanken nicht völlig abzuschweifen.

Immer wieder kehren sie zu einem Punkt zurück: Ivete ist tabu! Wir können uns noch nicht einmal ausstehen. Aber vor allem ist sie die Freundin meines besten Freundes. Nicht mal seine Ex, was schon schlimm genug wäre. Nein, seine Freundin! Ich habe damit die oberste aller Regeln gebrochen!

Was passiert, wenn ich Bob alles gestehe? Wird er mich dann nicht unweigerlich fragen, wie es dazu kommen konnte? Was eine verdammt gute Frage ist. Bis vor ein paar Tagen konnten wir nicht zusammen in einem Raum sein, ohne uns gegenseitig anzuzicken. Und jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken als an diesen verdammten Kuss.

Nein, ich kann es ihm nicht sagen! Es ist das einzig Richtige. Die Wahrheit wäre eine noch größere Belastung für unsere Freundschaft als dieser dumme Kuss.

Niemand war Zeuge, nur ich kann mich noch daran erinnern. Es müsste also ein Leichtes sein, die Sache unter den Teppich zu kehren. Denn eines steht für mich fest, je länger ich darüber nachdenke: Ich will meinen besten Freund nicht wegen eines so dummen Fehlers verlieren. Also werde ich schweigen. Auch wenn es mich beinahe umbringt.

Und die Bewährungsprobe wird nicht lange auf sich warten lassen, denn ausgerechnet ich soll Bob morgen vom Flughafen abholen.

Unbekannter Gegner (Drei Fragezeichen Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt