Ich strecke mich. Es tut gut, mal wieder auszuschlafen. Ich fühle mich endlich mal wieder richtig fit, als ich an diesem Morgen aufstehe.
Ich greife nach meinem Handy. Ich habe neue Nachrichten auf WhatsApp. Jay und die anderen haben mich wie versprochen zu ihrer WhatsApp-Gruppe hinzugefügt, was ich echt cool finde.
Ich beginne die Nachrichten in der Gruppe zu lesen.
Alina: Hey Mattis! Alina hier. Sollen wir vielleicht mal alle unsere Namen und Pronomen in die Gruppe schreiben?
Ich speichere die Nummer sofort als Alina ein und lese auch die nächsten Nachrichten, in der jede*r seine*ihre Pronomen und Namen geschrieben hat. Ich speichere jede*n ein und versuche mir die passenden Pronomen zu merken.
Ben: Ich bin Ben, mich kennst du noch nicht. Meine Pronomen sind er/ihm.
Mattis: Okay, ich bin Mattis. Meine Pronomen sind er/dey. Sucht euch einfach aus, welche Pronomen ihr benutzt. Mir ist beides recht, ich präferiere keins :)
Ben: Alles klar!
Als daraufhin niemand mehr antwortet, schalte ich das Handy aus und ziehe mir meine Hausschuhe und einen weiten Pullover über den Schlafanzug.
Ich laufe nach unten, wo meine Eltern und mein Bruder schon auf mich warten. Der ganze Tisch ist gedeckt. In der Mitte steht ein Korb mit frischen Brötchen und eine einzelne Kerze ist angezündet. Die erste Kerze vom Adventskranz darf schließlich erst morgen angezündet werden.
Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen und schmiere eine dicke Schicht Nutella auf mein Brötchen.
"Wie ist die Arbeit eigentlich ausgefallen?", frage ich meinen Vater. Mein Vater ist Lehrer an einem Gymnasium, auf das ich jedoch glücklicherweise nicht gehe, und unterrichtet unter anderem eine neunte Klasse in Mathe. Dadurch kann ich mir immer gute Tipps von ihm holen, was oft ein Vorteil ist, auch wenn es manchmal nervt. Papa hat gestern mit seiner Klasse eine Arbeit geschrieben und ich bin gespannt, wie die ersten Ergebnisse sind.
"Ich habe erst eine paar Arbeiten korrigiert, aber die sind nicht so gut ausgefallen... Besonders bei Jonas, aber das ist ja immer so...", meint Papa und beißt krachend in sein Brötchen.
"Jonas? Den kenne ich gar nicht..." Papa erzählt oft von Schüler*innen, aber von einem Jonas habe ich noch nichts gehört.
"Eher die. Aber sie will ein Junge sein.", erwidert Papa.
"Also ein Transjunge? Dann ist er auch ein Junge, wenn er das sagt.", sage ich und trinke einen Schluck. Vielleicht ist das meine Gelegenheit, mehr darüber herauszufinden, wie Papa zu queeren Themen steht.
"Na ja. Man kann ja nicht einfach sagen, dass man jetzt ein Junge ist, wenn man eigentlich ein Mädchen ist.", meint Papa jedoch nur. Während ich innerlich Schwierigkeiten habe, nicht zu stöhnen, schlucke ich einen Bissen runter.
"Er ist nicht auf einmal ein Junge. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du auf einmal in einem weiblichen Körper wärst? Niemand entscheidet sich dazu, ein Geschlecht zu sein, oder denkt es sich aus. Dafür ist es viel zu kompliziert, trans zu sein.", versuche ich meinen Vater aufzuklären.
"Woher willst du das denn wissen? Bist du auch so einer? Man kann doch nicht auf einmal das andere Geschlecht sein."
"Nein, das stimmt. Man kann es nicht auf einmal sein. Denn Transpersonen sind auch schon immer ein Geschlecht. So wie du schon immer ein Mann bist.", versuche ich weiter, meinem Vater Transidentität klarzumachen.
"Aha", kommt es aber von Papa nur.
"Und nein, ich bin nicht transgender. Trotzdem gibt es das genauso wie es alle anderen Geschlechter und Sexualitäten gibt.", sage ich. Mama und mein Bruder halten sich weiter brav aus der Diskussion heraus. Danke auch!
"Schwul und lesbisch ist ja auch okay, aber mehr verstehe ich da auch nicht mehr. Auf einmal erfindet ja jeder eine neue Sexualität und die meisten davon gibt es eigentlich gar nicht. Entweder man ist eben hetero- oder homosexuell."
"Na ja. Also zumindest Bi- und Asexualität solltest du noch mit einbeziehen.", erwidere ich.
"Und was soll das bitte sein?"
"Bisexuelle stehen auf Frauen und Männer oder mehr Geschlechter. Und Asexuelle stehen auf kein Geschlecht."
"Aha. Ich glaube nicht, dass es das gibt."
"Doch, tut es. Es gibt genug bi- und asexuelle Menschen, die dir das beweisen können.", sage ich wieder. Meine Stimme wird fester. Theo, mein kleiner Bruder, isst immer noch einfach weiter sein Brötchen.
"Ist doch jetzt auch egal. Wie war es gestern im Jugendzentrum?", wechselt Mama jetzt das Thema, ohne auch nur ein Wort zu der ganzen Sache zu sagen.
"Ich fände es auch besser, ein Mädchen zu sein. Und Jungs finde ich auch cooler. Mädchen sind voll blöd.", schaltet sich jetzt mein achtjähriger Bruder ein. Ich muss grinsen. Das ist echt süß von ihm. Wer weiß, vielleicht stellt sich ja später heraus, dass er schwul ist? Oder trans? Ich könnte es mir vorstellen. Wenn es so sein sollte, werde ich ihm auf jeden Fall von diesem Zitat erzählen.
Papa starrt Theo mit aufgerissenen Augen an, aber ich beschließe, ihn einfach zu ignorieren und gehe jetzt auf Mamas Frage ein.
"Gut. Ich habe viele neue Leute kennengelernt.", erzähle ich.
"Das ist doch schön. Schatz, gibst du mir mal die Marmelade?"
Papa reicht ihr das Marmeladenglas und damit ist auch das Thema erledigt.
Doch in meinem Kopf ist noch lange nichts erledigt. Ich denke noch immer an Papas Worte. Man kann nicht einfach sagen, dass man jetzt ein Junge ist, wenn man eigentlich ein Mädchen ist. Das hat mich tief im Magen getroffen. Dass ich nicht so ganz ein Junge bin, weiß ich ja schon länger, aber ein Mädchen bin ich irgendwie auch gar nicht. In in der Mitte? Das passt auch nicht wirklich. Ich glaube, Demiboy beschreibt meine Gefühle schon ganz gut, aber trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl, dass das auch nicht so ganz zu mir passt...
Ob ich es Papa sagen soll? Oder Mama? Sie hat sich ja nicht so wirklich zu allem geäußert. Sie würde mich wahrscheinlich auch eher unterstützen als Papa. Allerdings... Eigentlich ändert sich ja nichts. Ich meine, ich behalte meinen Namen und mit meinen Pronomen fühle ich mich eigentlich auch wohl. Also, wieso sollte ich es sagen?
Ich stöhne. Es ist echt nicht einfach, wenn man selbst nicht einmal weiß, wer man denn jetzt wirklich ist. Vielleicht sollte ich einfach abwarten. Irgendwann wird es schon den richtigen Moment geben. Und dann erkläre ich meinen Eltern ruhig, wie ich mich fühle. Das funktioniert schon irgendwie...
![](https://img.wattpad.com/cover/356917209-288-k287129.jpg)
DU LIEST GERADE
Weil wir anders sind (boyxboy)
Novela JuvenilEs ist Advent, die schönste Zeit im Jahr. Während Jay als schwuler Transjunge noch immer auf der Suche nach einem Ort ist, wo er wirklich akzeptiert wird, versucht Mattis herauszufinden, wer er denn wirklich ist. Als sich die beiden in einem queere...