16. Der Anfang vom Ende

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CHARLIE
Emily war krank. Und genau das beunruhigte mich ein bisschen. Ich war noch nie mit Dylan alleine gewesen. Und Dylan war still. Genauso wie ich. Diese Ähnlichkeit hatten wir, mehr aber auch nicht. Wieso wir so still waren, genau da begann der Unterschied. Dylan redete nicht viel, weil er es so wollte. Ich dagegen, war einfach bloß schüchtern. Also hatte Emily unrecht gehabt mit ihrer Behauptung.
,,Weihnachten", murmelte Dylan gerade und trommelte mit seinen Fingerspitzen ungeduldig auf den unzähligen CD's vor ihm herum. Interessiert blickte ich hoch.
,,Feierst du da mit uns?" Ich riss überrascht meine Augenbrauen in die Höhe. Ob ich überhaupt Weihnachten feierte, darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Jetzt erschien mir die Frage unendlich wichtig. Dylan zog eine Grimasse, schob die CD's in ihren Gestellen herum. ,,Emily hat dich wahrscheinlich vergessen zu fragen" Ich lächelte. Emily war so konzentriert darauf Emily zu sein, dass sie ziemlich viel vergaß.
,,Scheint so" Auch Dylan lächelte, obwohl es eher ein freches grinsen war. ,,Tja, jetzt weißt du Bescheid"
Ich wusste Bescheid. Ich wusste auch darüber Bescheid, dass es mir immer schlechter ging. Und irgendwie machte mir das alles extrem Angst. Diese Angst lag wie ein Kloß in meinen Magen und knautschte sich immer mehr zusammen. Es ärgerte mich. Ich sollte keine Angst haben. Ich wollte es doch so. ,,Wann kommt Shelby eigentlich?", fragte Dylan, schnappte sich das neue Album von Fall out Boy und sah sich konzentriert den Kaufpreis an.
Ich wollte antworten, Eigentlich jetzt, aber Shelbys hohe Stimme, ließ mich nicht zu Wort kommen. ,,Ich bin hiieer!", trällerte sie. Ihr Vanille Duft schlug uns sofort entgegen und stürmisch legte sie ihren Arm um meine Schulter. ,,Na Cousin? Hast du mich vermisst?" Shelby hatte wie immer einen grellen Lippenstift aufgetragen und wie immer sah sie -vielleicht nicht glücklich- aber ziemlich zufrieden oder verrückt aus. Wie machte sie das bloß? Mir erschien ihr Lebenstil unmöglich. ,, Shelby" erwiderte ich lächelnd. Missbilligend schnalzte sie mit ihrer Zunge.
,,Du hast meine überaus wichtige Frage nicht beantwortet. Aber ich verzeihe dir.Dieses mal." Sie wandte sich an Dylan.
,,Hallo, du Tattoofreak" Der Tattoofreak hatte immer noch die CD in der Hand und blickte nicht mal hoch. ,,Hey Shelby", murmelte er nur und legte das Album sorgfältig zurück.
,,Sind wir hier fertig?" Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte und blickte uns grinsend an. Keiner antwortete ihr. Sie war wie Emily. Sie leuchtete und wir waren farblos. ,,Gut, denn ich will jetzt was trinken. Ich habe Durst" Draußen fing es an zu schneien. Die Kälte kroch untere unsere Mäntel, biss sich in uns fest. Dylan führte uns in eine kleine Bar. Er war der einzige, der sich in München richtig auskannte. Also folgten wir ihm. ,,Ist meine Lieblingsbar", erklärte er und drückte die Holztür mit einem geheimnisvollen lächeln auf. Als wir eintraten roch es nach Zigaretten und Schweiß. Hinter der Theke stand ein junger Mann. Er lächelte und rief zur Begrüßung:
,,Dylan, du Arsch. Du schuldest mir noch fünf Euro" Shelby hob amüsiert eine Augenbraue und Dylan lachte. ,,Das bildest du nur ein, Rick" Rick schüttelte bestimmt den Kopf. ,,Nein, mein Freund, ich kann mich noch ganz genau erinnern" Der Laden war halb voll und die meisten hatten sich vor einen Fernsehbildschirm gruppiert, um Fußball zu sehen. Dylan zog einen Geldschein aus der Hosentasche und legte ihn augenverdrehend auf die Holzplatte. ,,Danke, mein Freund" Er zwinkerte Shelby zu, die die Geste nur lächelnd erwiderte.
,,Kommt, bevor Rick Shelby auffrisst", sagte Dylan, während Rick hinter unserem Rücken schallend loslachte. Wir setzten uns an einen runden Tisch, in eine kleine Nische, neben uns blinkte ein Flipper Automat und einige Männer jubelten begeistert auf als ein Tor fiel. Kurz schwiegen wir, bis Shelby das Wort ergriff.
,,Also, warum diese ganzen Tattoos. Ich meine, mir ist schon klar, dass du deine Mutter provozieren wolltest ... Aber wieso?" Unbehaglich zupfte ich an meinen Jackenärmeln herum. Natürlich interessierte mich das auch, aber ich hätte nie so direkt gefragt wie Shelby. Dylan seufzte, zuckte mit seinen Schultern und sah weg. ,,Komm schon", flehte sie.
,,Shelby...", murmelte ich. Das "Das geht zu weit", lag mir auf der Zunge, aber Dylan unterbrach mich. ,,Nein, ist schon okey" Prüfend sah er meine Cousine an. ,,Du kennst mich zwar nicht, aber du willst es unbedingt wissen, oder?" Er klang ein bisschen spöttisch. Shelby ignorierte es. Sie legte ihre Hände auf den Tisch, die Handflächen nach oben gerichtet. ,,Ich bin ein neugieriger Mensch" Shelby ließ nicht locker. Sie erinnerte mich an Paul. Der war genauso stur wie sie. ,,Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst"
,,Will ich", bestägtigte sie. ,,Charlie?" Dylan wandte sich an mich. Ich zog die Schultern nach oben und schüttelte den Kopf. ,,Ist mir egal" Sein Blick glitt wieder zu Shelby, die triumphierend grinste. Resigniert fuhr er sich über das Gesicht.
,,Nachdem mein Vater verschwand, fiel meine Mutter in eine Depression. Es interessierte sie nicht mehr was ich tat, also bemühte ich mich, ihre Aufmerksamkeit wieder zugewinnen... " Er hielt inne. Sein Gesicht war angespannt. Es schien ihm sichtlich gegen den Strich zu gehen über persönliche Dinge zu reden. Aber sein Mund füllte sich weiterhin mit Wörtern und ließ sie los. ,,Ich prügelte mich. Brachte schlechte Noten nach Hause. Aber es interessierte sie nicht. Ich dachte, keine Ahnung, war eigentlich ein ziemlich blöder Gedanke, dass die Tattoos sie wieder aus ihrer starre lösen würden. Also hab ich's gemacht. Ende der Geschichte" Er schüttelte den Kopf.
,,Aber es war ein Fehler. Alles was meine Mutter gebraucht hätte, wäre keinen Sohn zu haben, der gegen alles und jeden rebelliert" Dylans Gesicht war nur noch eine harte Maske. ,,Du liebst sie, nicht wahr?"
,,Klar, wer liebt seine Mutter denn nicht"
Das Blau in Shelbys Augen wurde eisig.
,,Ich"
Mein Mund klappte auf. Shelby hasste ihre Mutter. Ich wusste nicht wieso. Und ich wusste nicht einmal, wer ihre Mutter war. Was klar war. Ich wusste ziemlich wenig über meine Familie. Auch Dylan wirkte überrascht. Shelby blieb kalt. Keine einzige Regung konnte man aus ihrem Gesicht ablesen. Wie eine Statue. Grau. Leblos.
Plötzlich zischte Dylan auf.
,,Was....?", fragte ich erschrocken. Die Stimmung im Raum hatte sich verändert. Nicht nur bei uns. Bei allen. Rick sah versteinert zur Tür, seine Hand lag am Zapfhahn und wer blickte ihm entgegen? Jerry. Der junge mit den weißblonden Haaren und dem fiesen grinsen auf den Lippen. Und in seinen Armen? Dylans Mom. Ich erkannte sie noch vom letzten mal. Sie sah genauso aus wie damals. Verstrubbelte Harre und verschmierter Lippenstift, nur das ihre Augen in Tränen schwammen. Dylan stand hastig auf. Seine Schulteen sanken nach unten. Er war nur noch ein verzweifelter Junge, der seine Mutter beschützen wollte. Alles war anders. Alles ging den Bach runter. Draußen wölbte sich der schwarze Himmel über die leuchtende Stadt.
____

Zuhause ging es mir verdammt schlecht. Mein Kopf platzte. Alles brannte. Ich kämpfte dagegen an. Aber ich war bloß ich. Charlie. Mehr nicht. Ich versuchte nicht mehr, es zurückzuhalten. Ich taumelte. Meine Nase blutete. Ich würgte. Als meine Wange auf den Boden platschte, sah ich nur noch meine unbefleckte weiße Wand. Das. War. Der. Anfang. Vom. Ende.

Sein Name war CharlieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt