9. Er hatte geliebt. Er hatte verloren.

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EMILY

,,Ich mache wirklich gern Hausaufgaben. Und zur Schule gehe ich auch gerne" Fassungslos sah ich Charlie an. Wir saßen in der Aula, es war laut und Dylan holte für uns mehrere Riegel. Ich betrachtete Charlie, der mit gekrümmten Schultern da saß, die Handflächen lächelnd auf den Tisch gepresst. ,,Charlie, das ist nicht mehr normal. Sowas mögen nur Streber" Immer noch Kopfschüttelnd stierte ich in seine Augen, die wie immer in einen eigenartigen Türkis schimmerten.

,,Was mögen nur Streber?", fragte Dylan, der ein twix, vier Kinder Countrys und viel zu viele andere Schockoriegel auf den Tisch fallen ließ.

,,Charlie mag die Schule. Und Hausaufgaben. Unfassbar oder?" Lachend setzte sich Dylan neben mich hin und schnalzte mit der Zunge. ,,Du magst die Schule also?"

,,Wenn man davor gefühlte Jahrzehnte lang Privatunterricht hatte, dann schon", erwiederte Charlie und knibbelte, unseren Blicken ausweichend, die Verpackung seines Schockoriegels ab. Und ich zog die Information, wie ein Schwamm in mich auf. Ich wusste viel zu wenig über Charlie, als das es mir lieb war. ,,Privatunterricht. Soso"

Interessiert lehnte sich Dylan zurück. Er wollte auch mehr erfahren, genauso wie ich. Charlie war jetzt unser Freund. Und Freunde erzählen sich sowas eben. Charlie zuckte nur mit den Schultern. Sein Blick wanderte zum Nachbartisch, wo ein Mädchen ständig lachen musste und sich grinsend an einen Mitschüler presste. Danach sah Charlie zu mir, betrachtete mich, wie mich sonst keiner ansehen würde. Wieder sah er weg und sagte, mit konzentrierter und leiser Stimme: ,,Es war ziemlich langweilig. Es hatte keinen Spaß gemacht. Mein Lehrer hatte keine Lust auf mich" Charlie lächelte verlegen. Es war nur ein leichtes zucken mit dem Mundwinkel. ,,Hattest du da, wo du warst, Freunde?" Ich wusste nicht wie Dylan jetzt auf die Frage kam. Betreten malte Charlie, mit seiner Hand, Muster auf den Tisch. ,,Nein", murmelte er. In diesem kleinen Wort steckte eine unbestimmte, glasklare Traurigkeit. Ich hatte immer Dylan gehabt. Aber Charlie hatte niemanden. Damals, dachte ich. ,,Hatte ich nicht"

CHARLIE

Der Parkplatz war überfüllt. Mehrere Autos die dastanden, davor Eltern, die mit verschränkten Armen und mit einem hoffnungsvollen Blick auf ihre Kinder warteten. Dylan hatte mich mit geschleppt. Emily musste Bus fahren und Dylan wurde abgeholt, weil Billy einen Zahnarzt Termin hatte und er unbedingt wollte, dass sein größerer Bruder mitkam. ,,Sie hat einen schwarzen Twingo", erklärte mir Dylan gerade und fuhr sich ungeduldig durch die Haare. ,,Okey", erwiederte ich.

Die Sonne war nicht stark genug, um die Kälte zurückzuhalten und meine Finger fingen an zu kribbeln. ,,Hast du schon mal Weihnachten gefeiert, Charlie?", fragte mich Dylan plötzlich. Er starrte die bunten Herbstblätter auf den matschigen Boden an, sah schließlich hoch und lächelte. Ich fand es komisch, dass er meinen echten Namen kannte, dass er ihn benutzte. Denn wollte ich nicht eigentlich Charlie, den unglücklichen Charlie, der ich selbst war, hinter mir lassen? Es schien irgendwie nicht zu klappen. Der Name klebte an mir, wie ein Kaugummi, den man mit mühe versuchte irgendwo abzukratzen. ,,Weihnachten...", murmelte ich. Ich dachte an meine Mom. Mit ihr hatte ich es bestimmt schon mal gefeiert, aber ich konnte mich nicht daran erinnern. ,,Ja", sagte ich leise, ,,damals"

,,Und jetzt?" Ich zuckte mit den Schultern. ,,Paul steht nicht so auf festliches Zeug" Immer wenn Weihnachten war, sahen wir uns Filme an. Aber keine Weihnachtsfilme. Filme, in denen viel zu viel Blut floss, als das es normal wäre. Und natürlich trank Paul. ,,Hmm...", machte Dylan. ,,Da ist sie" Dylan nickte auf ein kleines Auto, das gerade ankam. Er hob kurz den Arm, um zu winken und verdrehte die Augen. ,,Wetten sie raucht im Auto? Ich hasse es, wenn sie das tut" Der Twingo hielt genau vor uns und Dylan seufzte übertrieben. Die Fenster waren heruntergekurbelt, trotz der Kälte, und ich sah durch die Scheibe wie Dylans Mutter eine Zigarette in der Hand hielt. Wenn ich ehrlich sein sollte, sah sie ziemlich verstört aus. Verstrubbelte Haare, tiefe Augenringe, verschmierter Lippenstift. Dylans Gesichtsausdruck verhärtete sich ein klein wenig und er flüsterte mir so leise, dass nur ich ihn hörte, zu: ,,Sie sieht nicht immer so aus" Er schämte sich. Und irgendwie wusste ich, dass Dylans Mom immer so war. Oder besser gesagt aussah. Ich nickte, tat so, als ob er recht hätte. Er bückte sich in das Auto, durch das Fenster und sagte zu seinem kleinen Bruder, der auf den Beifahrersitz saß: ,,Na kleiner. Was machst du auf meinem Platz?" Billy lächelte leicht, spielte mit seinem Pflaster, das auf seinen Kopf pappte. Er sah wirklich fast genauso wie Dylan aus. ,,Mama hat gesagt, ich darf hier sitzen, weil ich zum Arzt muss" Er zog beinahe das ganze Pflaster hinunter. Sofort beugte sich Dylans Mom zu ihrem kleinen Sohn und hielt seine Hand fest.

Sein Name war CharlieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt