17. Glückstag

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EMILY
,,Warte. Erklär mir das nochmal!", stieß ich hervor und hob meine Hände. Dylan seufzte. Er hatte tiefe Augenringe und seine Haare standen in allen Richtungen ab. Charlie sah auch nicht besser aus. Röchelnd holte er tief Luft. Besorgt schielte ich weiterhin zu Charlie, während Dylan anfing zu reden. ,,Meine Mutter hat zu viel getrunken" Was eigentlich ziemlich normal war.
,,Ein Typ hat sich an sie rangemacht" Das war auch normal. Soweit ich wusste. ,,Meine Mutter ist ausgetickt" Normal. ,,Und dann ist Jerry aufgetaucht" Absolut nicht normal!
,,Und dann?", fragte ich.
Dylan sah sich um, ob in der Aula uns auch wirklich niemand zuhörte. Aber wer sollte uns schon zuhören? Wir waren uninteressant. Charlie legte seine Wange an die Tischplatte und schloss die Augen. Seine Finger krümmten sich zu einer Faust und wieder holte er japsend nach Luft. Erschrocken wechselten Dylan und ich einen Blick. ,,Ist alles okey, Charlie?" Vorsichtig legte ich eine Hand auf Charlies Schulter. ,,Alles super", stieß er hervor und presste seine Finger gegen seine Schläfen. ,,Erzähl ruhig weiter, Dylan. Ich hör zu.", brummte er geistesabwesend. Ich betastete seine überhitzte Stirn. Das war nicht normal. Vielleicht hatte ich ihn mit meiner Grippe angesteckt?
,,Du solltest ins Krankenzimmer"
,,Nein" Mühsam richtete sich Charlie auf. ,,Mir geht es gut" Er grinste uns an. ,,Mir geht es richtig gut."
Ich schüttelte den Kopf. ,,Charlie.."
Charlie durchbohrte mich mit seinen türkisen Augen. Sie wirkten matter als sonst. ,,Glaub mir, mir geht es super" Ich schluckte und lehnte mich widerstrebend zurück. ,,Wenn du meinst" Ich sah zu Dylan, der mit gerunzelter Stirn Charlie musterte. Charlie verdrehte die Augen.
,,Los, Dylan. Erzähl weiter!"
,,Na gut" Charlie klang so überzeugt, seine Stimme überlud sich förmlich mit einer tiefen, hoffnungslosen Verzweiflung, dass keiner von uns beiden sich traute zu widersprechen. Dylan räusperte sich geräuschevoll.
,,Erst ist Jerry mit meiner Mom zu uns nach Hause. Aber da war keiner. Also ist er los zu Rick's Bar" Er seufzte. ,,Sie war völlig hysterisch. Hat gar nicht mehr aufgehört zu weinen" Ich griff über den Tisch und drückte Dylans Hand tröstend. ,,Das tut mir so Leid"
,,Wieso? Meine Mutter ist..."
,,Eine Hure?" Jerrys Stimme erhob sich über meinen Kopf.
,,Was?!", zischte Dylan. Seine Miene verhärtete sich. Unter meinen Fingern spürte ich wie sich seine Hand zur Faust ballte. Charlies blaue Augen waren entsetzt aufgerissen. Und ich dachte, dass Jerry verrückt war. Ein verrücktes Arschloch mit einem losem Mundwerk und einem lodernden Hass ihn ihm. Er hasste Dylan. Und im Moment hasste Dylan ihn. Zwei Hassende. Zwei leidenschaftlich Hassende...
,,Du hast schon richtig gehört. Deine Mutter ist eine Hure. Eine Nutte, die sich an jeden ranmacht, den sie in die Finger bekommt"
Dylans Stuhl kratzte über das Linoleum.
Ein Faustschlag in Jerrys Gesicht.
Charlie und ich sprangen auf.
Jerrys Hand, die gegen Dylans Magen boxte. Charlie stürzte sich auf Jerry.
Mein Charlie, der soeben noch röchelnd nach Luft geschnappt hatte. Jerrys Freunde gingen auf Dylan und Charlie los. Eine Menge aus prügelnden Menschen. Fäuste, die auf Körperteile aufschlugen. Jerrys irres lachen. Blutende Nasen. Charlies blutende Nase. Blut. Mein Magen zog sich zusammen, alles drehte sich. Ich bekam keine Luft. Luft. Luft. Blut. Meine Kehle presste einen endlosen Schrei aus. Endlos, bis keine Luft mehr übrig blieb.

CHARLIE
Irgendjemand schrie und mein Kopf fühlte sich an als ob er gleich zerbersten würde. Ich hatte mich noch nie geprügelt. Wie denn auch? Damals hatte ich keine Menschenseele gekannt. Prügelnde Menschen hatte ich nur im Fernsehen gesehen.
Aber jetzt -.
Ein schwarzhaariger Junge packte meine Schulter und rammte sein Knie in meinen Magen. Nach Luft holend krümmte ich mich zusammen. Ich schmeckte Blut. Alles tat weh. ,,Charlie!" War das Emily? Meine Ohren rauschten. Mein Herz hämmerte unnachgiebig gegen meine Brust. Pures Adrenalin strömte durch meinen Körper und mühsam richtete ich mich auf. Ich wartete darauf, dass der schwarzhaarige wieder angriff, aber Dylan hatte ihn sich schon geschnappt und schlug ihm mehrmals ins Gesicht. Dylan hatte sicherlich schon tausend Kämpfe hinter sich. Denn er sah gefährlich aus, mit seiner abgewetzten Lederjacke, den dunklen Klamotten und dem Blut, das von seiner Stirn hinunterlief. Jerry stieß mit einem wütendem Schrei Dylan weg. Er krachte gegen einen Tisch und schnaubte wütend. Jetzt bauten sich Jerry und der schwarzhaarige vor Dylan auf. Zwei gegen einen, was unfassbar unfair war. Ich wurde wütend. Und viel zu mutig. Oder es war meine bloße Dummheit. Ich rammte mit meinem ganzen Körper den schwarzhaarigen. Er war viel kleiner als ich (was man erstmal schaffen musste). Das hatte mir zwar vorhin auch keine Vorteile gebracht, aber es war trotzdem allemal besser ihn anzugreifen als Jerry. Jerry war drei Köpfe größer als ich und ziemlich muskelbepackt. Wir beide gingen zu Boden. Und ich hatte Glück. Ich landete genau auf ihn drauf. Ich grub meine Knie in seinen Rücken und presste mit aller Kraft seine Hände auf den Boden. Vielleicht konnte ich es so einige Minuten aushalten. Eigentlich bestand mein Leben nur aus unglücklichen Momenten, aber heute war wirklich mein Glückstag.
,,Stopp!", brüllte jemand und ich erkannte erleichtert Herr Mintes Stimme. Ich rollte mich weg und übersah den bösen Blick des schwarzhaarigen. Dylan stand immer noch, während Jerry auf den Boden lag und hasserfüllt nach oben zu Dylan blickte. Ich grinste, voller Schadenfreude. Zwei weitere Lage auf den Boden. Dylan war ja eine richtige Maschine. Ohne mich hätte er es bestimmt genauso locker geschafft. Ich war sowieso keine Hilfe gewesen, eher hatte ich alles schwieriger gemacht.
Um uns herum hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Ich entdeckte Emily. Klein und hilflos. Sie presste die Lippen aufeinander. Wir starrten uns an. Lange. Ihre glänzenden Augen waren wie ein schwarzes Loch, das mich verschluckte. ,,Was ist hier los?!", rief unser Lehrer wütend. Keiner antwortete ihm. Emily sah weg. War sie enttäuscht? Irgendwie tat es weh. Benommen blickte ich nach unten und weil ein blutroter Tropfen auf den hellen Boden fiel, wurde mir bewusst, dass ich aus der Nase blutete. Ich wusste nicht, ob es an einen der Schläge oder an meiner "Krankheit" lag.
,,Ihr alle! Zum Direktor!"
Ich kniff die Augen zusammen. Ich konnte nicht aufstehen. Es rauschte immer noch überall und alles drehte sich und ich blutete und mir war schlecht und mein Kopf würde gleich explodieren. Verzweifelt schnappte ich nach Luft. ,,Komm", sagte Dylan. Er kam auf mich zu, ergriff meine Hand und half mir hoch.

,,Alles okey, Jeremy?" Blinzelnd sah ich zu Dylan. Ich hatte völlig vergessen, dass mich jeder nur Jeremy nannte. Weil ich Jeremy sein wollte. Immer noch. ,,Ja, alles gut", krächzte ich. Wir saßen vor dem Büro des Direktors. Die Schule war schon längst aus und Jerry saß immer noch im Büro. Ich wartete darauf, dass mich Paul abholte. Er würde stinksauer sein. Verdammt sauer sein. Ich hatte einen Verweis bekommen. Mein erster und einziger Verweis in meinen Leben. Wie faszinierend. Dylan hatte sein Gespräch noch vor sich und uns war beiden klar, dass es bei ihm nicht bei einem Verweis bleiben würde. Genauso wie bei Jerry. Es war nicht die erste Prügelei in diesem Jahr gewesen.
,,Du blutest, Mann"
Ich grinste. ,,Du doch auch"
,,Jungs!" Emilys Stimme hallte durch den Gang und mit schnellen Schritten eilte sie auf uns zu. ,,Was sollte das denn?!" Ihre Stimme brach ab. ,,Hey, Kleine" Dylan kicherte. Sie warf ihm einen bösen Blick zu.
,,Wie konntest du nur? Du weiß ganz genau, dass Jerry das wollte!"
,,Ach, Emily!"
Er zog sie in eine Umarmung und sie trommelte mit ihren Fäusten wütend auf seinen Rücken herum.
,,Warum muss ich mir immer sorgen um euch machen?" Sie setzte ihren Kopf auf Dylans Schulter ab und sah schließlich zu mir. Behutsam legte sie mir ihre warme Hand an meine kühle Wange. So verharrten wir, alles miteinader verbunden.
Ich dachte, heute wäre das Glück auf meiner Seite, aber eigentlich sollte ich wissen, dass sie immer gegen mich sein würde. Sie zerstörte alles. Paul stand vor uns und er stierte Emilys Hand an, die auf meiner Wange lag.
Sie zerstörte alles, bis nichts mehr außer verkohlten Resten übrig blieb.

Sein Name war CharlieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt