10. Alles gesagt

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EMILY

,,Kannst du mal endlich Schluss machen? Ich will auch noch telefonieren" Mom stand mit verschränkten Armen an meiner Zimmertür, mit vorwurfsvoller gehobener Augenbraue und zusammengepressten Lippen. Feindselig sah ich sie an. ,,Mom, es ist wichtig!" Seufzend verdrehte sie die Augen und warf die Tür hinter sich zu. Das würde nachher noch Streit geben, das wusste ich. Ich presste das Telefon wieder an mein Ohr. ,,Was hast du gesagt?" Als ich mich wieder auf den Rücken legte und meine künstliche Sternendecke sah, musste ich lächeln. ,,War das deine Mom?"

,,Hmm..ja"

,,Du hast grad ziemlich böse geklungen" Ich runzelte die Stirn. ,,Ich weiß. Aber sie hat mich auch genervt"

,,Wenigstens nervt sie dich" Der Satz verschlug mir die Sprache. Dylan sprach nie über Gefühle oder über seine Mutter. Eine weitere zerstörte Seele, die auf der Erde herumwanderte, das war sie. Dylans Mom. ,,Du machst mich traurig" , flüsterte ich benommen. Ich schloss meine Augen und hörte zu wie Dylan am anderen Ende der Leitung atmete, wie er wartete, wie ich wartete und wie wir beide schwiegen. Schließlich räusperte er sich wieder. ,,Jerry hat mich heute wieder dumm angemacht" Ich öffnete meine Augen. ,,Wie bitte?! Wann? Wo? Was hat dieser Dummkopf gesagt?!" Wie ich Jerry hasste. Sein dümmliches grinsen. Wie er arrogant beide Augenbrauen nach oben zog. Ich hasste ihn.  ,,Als ich uns die Riegel geholt hab. Er hat mich angerempelt und gesagt, ich zitiere: 'Ich solle meine scheiß Fresse woanders hinbewegen!'",äffte Dylan, mit einer näselnder Stimme, Jerry nach. ,,Sag mir bitte, dass du ihm eine reingehauen hast. Bitte" Dylan lachte. ,,Nein hab ich nicht. Diese Zeiten sind vorbei" Knurrend setzte ich mich wieder auf. Dylan war viel zu gut im Thema-Wechseln. ,,Um ehrlich zu sein, versteh ich das immer noch nicht so recht", erklärte ich. Ich war eben einfach zu neugierig und das wir über Gefühle sprachen, war selbst mir ziemlich unangenehm. Im ersten Moment klingt das nicht nach Freundschaft. Aber Dylan kannte mich und ich kannte ihn. Ich wusste wann es ihm schlecht ging und er wusste wann es mir schlecht ging. Wir mussten darüber kein Wort wechseln.  Es war irgendwie selbstverständlich. Und ich wünschte, ich könnte Charlie ebenso gut kennen. Dylan seufzte. ,,Was verstehst du nicht daran?"

,,Naja..", überlegte ich. ,,Es ist doch komisch. Damals wart ihr befreundet" Dylan unterbrach mich. ,,Wir waren nicht wirklich befreundet" Diesmal seufzte ich auf und bohrte meine freien Finger in die Bettdecke. ,,Siehst du! Genau das versteh ich nicht!", meckerte ich. ,,Ihr saht aus als wärt ihr beste Freunde!" Dylan lachte bloß. ,,Hör auf dich über mich lustig zu machen!", jammerte ich. ,,Gut, ich erklär's dir, okey?", prustete Dylan immer noch, am anderen Ende der Leitung. ,,Was ist daran so witzig?" Ich verstand es nicht. Denn eigentlich wollte ich es ja nur verstehen und Dylan lachte einfach grundlos. ,,Jerry und ich waren nur, keine Ahnung, wie ich es am besten beschreiben soll... Wir waren.... Verbündete"

,,Verbündete", murmelte ich. ,,Ja. So was in der Art" Stirnrunzelnd pulte ich an meinen Nägeln herum. ,,Das erklärt trotzdem noch nicht alles" Ungeduldig seufzte Dylan auf. ,,Doch eigentlich ja schon. Sein Vater..." Dylans Stimme wurde immer leiser, bis er am Ende einfach aufhörte. ,,Du weißt schon", krächzte er und fing an zu husten. Er hustete aus Verlegenheit, nicht weil er krank war. ,,Oh" Ich ließ meine Hand sinken und starrte gedankenverloren aus meinem Fenster. Dylans Vater war, als Billy gerade geboren wurde, einfach verschwunden. Ohne ein Wort zu sagen. Ohne einen Brief. ,,Aber eigentlich habe ich wegen einem ganz anderen Grund angerufen"

,,Wirklich? Na dann, raus damit" Dylan lachte. ,,Ganz ruhig" Ich verdrehte die Augen und wartete. ,,Charlie...naja, hat seit langem nicht mehr Weihnachten gefeiert und ich habe mich gefragt, ob er mit uns feiern kann. Bei dir. Wie jedes Jahr" Mein Blick schnellte zu meiner Decke und ich fing an zu grinsen. ,,Du magst ihn"

CHARLIE

Als ich die Tür öffnete, roch ich gebratene Eier. Ich kroch aus meinen Schuhen und ging in die Küche, wo Paul mit stumpfsinnigen Blick auf seinen Teller sah und mit seiner Gabel leidenschaftslos in seinem Rührei rumstocherte. ,,Wo warst du" Seine Stimme klang scharf, wie ein Messer, dass jedes Zeug durchbohren konnte. Ohne ein Wort zu sagen schlurfte ich auf den Kühlschrank zu, um mir einen Joghurt zu holen. Hinter mir hörte ich das kratzen der Gabel, als Paul weiterhin mit seinem Rührei rumspielte. ,,Gut", sagte er bloß. ,,Wir fahren nach Hause"

Wütend pfefferte ich den Becher auf den Tisch, der ein paar Zentimeter weiterrutschte und vor Pauls Teller stehen blieb. Der starrte erst den Becher, dann mich ausdruckslos an. ,,Meinst du ernsthaft", fauchte ich, ,,dass Schottland mein Zuhause war?!" Ich hatte noch nie meine Stimme gegen Paul erhoben. Damals nicht, als meine Mutter mich bei ihm abgesetzt hatte und auch heute nicht. Ich war ihm immer dankbar gewesen. Aber jetzt. Jetzt war ich wütend. ,,Nur weil du keine so guten Erfahrungen, mit dieser Krankheit, die wir haben, gemacht hast, musst du MICH nicht gleich einsperren!"

Pauls Blick schoss zu mir, seine Augen funkelten und mit festem Griff umklammerte er die Gabel. ,,Wer. Hat. Dir. Das. Erzählt?!", knurrte er. Ich stützte meinen rechten Arm auf den Tisch ab, beugte mich zu ihm und zeigte mit meinem linken Zeigefinger auf Paul.

,,Du weißt alles über mich. Aber dich kenn ich nicht mal. Wieso..." Ich sog scharf die Luft ein. ,,Wieso sollte ich dann auf dich hören?!" Paul hob eine Augenbraue. ,,Du kennst mich nicht? Ich bin dein Onkel" Ich schüttelte den Kopf.

,,Du verstehst es nicht. Du erzählst mir nie was" Meine Stimme war wieder leiser geworden, trotzdem war ich noch wütend. Paul sah weg. Er spannte seinen Unterkiefer an und lies die Gabel, mit einem lauten klirren fallen. ,,Du wirst Shelby und William nicht wiedersehen"  Ich ging und knallte die Tür hinter mir zu. Ich hatte alles gesagt, was zu sagen war.

Sein Name war CharlieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt